Historisches
Nach den Vorfällen in der Panikengasse, bei der das Wachzimmer angegriffen worden ist, ist ein Teil der DemonstrantInnen zum Hofferplatz gezogen und hat erstmal die dort stationierte Polizei vertrieben. Während in der Thaliastraße Barrikaden gebaut worden sind, haben am Hofferplatz etwa hundert Jugendliche die Schule angegriffen. Sie haben die Fenster eingeschlagen, sind in die Schule rein, haben die Lehrmittel zerstört und die Bänke auf die Straße geworfen, wo sie zum Barrikadenbau verwendet worden sind.
Die Kämpfe am Hofferplatz haben bis gegen achtzehn Uhr gedauert. Erst die zu Hilfe geholte Infanterie hat es geschafft, den Hofferplatz zu räumen, und dann ist hier das Hauptquartier der Repressionskräfte aufgebaut worden. Es war ein richtiges Heerlager mitten im Wohnbezirk, mit zu Pyramiden zusammengestellten Gewehren und am Boden lagernden Soldaten.
Von hier aus sind dann Truppen in alle Teile Ottakrings dirigiert worden. Die Thaliastraße ist schließlich vom Militär besetzt worden, die Vorortelinie von der Polizei, auf der Schmelz waren starke Truppenverbände stationiert, und am Richard Wagner-Platz und am Habsburgplatz ebenfalls. Der Gürtel war gesperrt, das ganze Viertel war hermetisch abgeriegelt, und in den wichtigen Quergassen wie der Kreitnergasse hat es ebenfalls von Repressionskräften gewimmelt.
Zusätzlich ist angeordnet worden, dass alle Haustore um 20 Uhr zu schließen sind, die Gasthäuser um 21 Uhr Sperrstunde haben und eine nächtliche Ausgangssperre ist verhängt worden. Wer im Dunkeln unterwegs war, hat riskiert, erst verprügelt und danach verhaftet und wegen fadenscheiniger Anschuldigungen zu unbedingtem Arrest verurteilt zu werden.
Kurzes Resüme
Insgesamt hat dieser Aufstand fünf Todesopfer gefordert, vier sind am 17. September von Polizei und Militär umgebracht worden, ein weiterer Demonstrant hat sich in der Untersuchungshaft das Leben genommen.
Hunderte Menschen sind verletzt worden, von denen sicherlich viele nicht ins Spital gegangen sind aus Angst davor, auch noch angezeigt zu werden. Einige von ihnen sind angeschossen worden, viele haben Schlag- und Stichwunden von den Säbeln und Bajonetten davongetragen und noch viel mehr sind von der Polizei und den Soldaten verprügelt worden.
Mehrere hundert Menschen sind vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen von mehreren Tagen bis zu 15 Monaten verurteilt worden.
In den folgenden Tagen ist der Aufstand da und dort in der Stadt nochmal kurz aufgeflackert, in anderen Städten hat es Solidaritätskundgebungen gegeben, aber das war es dann auch.
Und drei Jahre später hat der Weltkrieg mit dafür gesorgt, dass dieser Teil unserer Geschichte, der 17. September 1911, in Vergessenheit geraten ist. Wer hätte auch ein Interesse daran gehabt, daran zu erinnern?
Die Regierung und die Kapitalisten sicherlich nicht, denn der Aufstand hat allen gezeigt, unter welch miesen Bedingungen die arbeitenden Menschen hier leben haben müssen, und was ihnen blüht, wenn sie sich dagegen wehren.
Die Sozialdemokratie hat aber auch kein Interesse daran gehabt, diesen Aufstand an die große Glocke zu hängen. Denn er hat gezeigt, dass die Leute genug gehabt haben von den Reden im Parlament und den disziplinierten Aufmärschen, die nichts gebracht haben.
Aktuelles
Die sozialdemokratischen Führer waren längst auf ihrem Weg durch die Institutionen, und da sind solche riots wie der in Ottakring eher hinderlich als karrierebefördernd. Wir kennen das auch vom deutschen Grünen Joschka Fischer, der in den 70er Jahren in Frankfurt als „Straßenkämpfer“ begonnen hat. Als Außenminister hat er dann „selbstverständlich“ die „Gewalt auf der Straße“ verurteilt. Den Angriffskrieg der NATO auf Jugoslawien, bei dem Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Verkehrsinfrastruktur in viel größerem Ausmaß zerstört worden sind als 1911 in Ottakring, hat dieser Paradegrüne natürlich gutgeheißen.
Für die sozialdemokratische Führung von 1911 waren die Proteste auf der Straße auch nicht mehr als ein Ventil, bei dem die Mitglieder Dampf ablassen, also vorgegebene Parolen schreien sollten. Die Politik sollte im Parlament stattfinden. Damit hat die Sozialdemokratie einen Schwenk vollzogen, so wie später die österreichischen Grünen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Als die ersten Abgeordneten ins Parlament eingezogen sind, war keine Rede mehr von Basisdemokratie, vom Rotationsprinzip, vom damals sogenannten „Spielbein Parlament“. Im Gegenteil, dieses Spielbein hat nun den Vorrang vor jeglicher selbständigen Unmutsäußerung der Basis, auch wenn die Erfolge dieser parlamentarischen Politik so marginal sind wie der sozialdemokratischen 1911.