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(Deutsch) Aufruf – 17. September 2011


17. September 1911 – Aufstand in Ottakring

Der 17. September 1911 ist in Vergessenheit geraten. Ein Tag, an dem mehr als 100.000 Menschen in Wien gegen die unzumutbaren Lebensbedingungen demonstrierten. Ein Tag, der mit drei Toten und hunderten Verletzten endete – und mit der militärischen Besetzung eines ganzen Stadtviertels.

Begonnen hatte dieser Tag mit einer Kundgebung vor dem Parlament gegen die rasant steigenden Lebensmittelpreise. Organisiert hatte diese Kundgebung die sozialdemokratische Partei, und gekommen waren vor allem die BewohnerInnen der Vorstädte, aus Landstraße, Simmering, Ottakring …

Hunger wird gemacht

Der Hunger in den Vorstädten war nicht Folge von Missernten, sondern der Zollgesetzgebung, die den Interessen der Großagrarier folgte. Ebenso hatte es sich mit der Hungersnot in Frankreich 1846/47 verhalten, die auf die massenhafte Ausfuhr von Getreide zurück zu führen war (und die zu massenhaften Aufständen führte). Und genauso verhält es sich mit der Preisexplosion bei Getreide seit 2008, die Folge der Umstellung auf „Bio-Sprit“-Produktion ist und ebenfalls zu weltweiten Hungerrevolten führt.

Ebenso konnte die Wohnungsnot nicht auf die massive Zuwanderung nach Wien zurückgeführt werden. Sie war Ergebnis von Spekulation mit Grund und Boden sowie Baumaterialien. Neu-Ottakring war ein in den 1890er Jahren errichteter, auf dem Reissbrett entworfener Bezirksteil, mit schnurgeraden Straßen, Substandardwohnungen und horrenden Mieten. Die Architektur spiegelt bereits die Angst der Herrschenden vor den „Geistern, die sie gerufen hatten“ (gemeint sind die für die kapitalistische Entwicklung nötigen Arbeitskräfte) wider:

Es gab keine verwinkelten Gassen, die sich, wie in der Revolution 1848, leicht verbarrikadieren ließen. Das gesamte Grätzl war von drei Seiten leicht abzuriegeln: zur Innenstadt stellte der Gürtel mit der hoch geführten Stadtbahn eine ideale Befestigungsanlage dar, nach Süden grenzte ein riesiger Truppenübungsplatz an das Gelände, und im Westen endete das Gebiet an der Vorortelinie.

Verschiedene Sprachen

Am 17. September 1911 explodierte die Wut der VorstadtbewohnerInnen. Nach den Reden vor dem Parlament zogen Gruppen von mehreren tausend DemonstrantInnen durch die Innenstadt. Sie wurden von Polizei und Armee ständig angegriffen und abgedrängt. Dagegen wehrten sie sich mit allem, was ihnen in die Hände fiel.

Und wenn die Presse (und die Sozialdemokratie) später von „unverantwortlichen Elementen“ und „Lumpenproletariat“ sprach, so musste sie gleichzeitig zugestehen, dass die „Exzedenten“ von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt wurden: Frauen versorgten Jugendliche mit Steinen, die sie in ihren Schürzen herbeischafften, aus Gasthäusern wurden die Ordnungshüter mit Bierkrügeln, aus den Fenstern der Wohnhäuser mit allem, was verfügbar war, beworfen. Die sozialdemokratischen Führer verstanden ebenso wenig wie die Bürger, warum Papierhandlungen und Schulen verwüstet und Straßenlaternen zerstört wurden. Für sie standen diese Einrichtungen für den „Fortschritt“. Wir verstehen diese Zerstörungswut besser, wenn wir uns an Stelle der Straßenbeleuchtung die Kameraüberwachung öffentlicher Räume und an Stelle der Papierhandlungen und Bezirksämter die Datenbanken der Ministerien und Polizei (sowie die privatwirtschaftliche Sammelwut von Daten) vorstellen.

Was die einen notwendige Voraussetzung für „sozialen Frieden“ und „geordnetes Zusammenleben“ nennen, bedeutet für andere Überwachung, Reglementierung, Unterdrückung jeglichen Ansatzes eines selbstbestimmten Lebens. Und oft Bestrafung und/oder Abschiebung.

Die sozialdemokratische Führung verstand den Aufruf zur Kundgebung als „Ventil“ für die Massen, die ihre Wut artikulieren „durften“, und als Unterstützung ihrer Parlamentsfraktion. Die Massen selbst verstanden, dass eine Kundgebung nichts ändern würde, sahen sie sich doch von Anfang an tausenden Ordnungshütern gegenüber, die nur darauf warteten, die Demonstration so rasch wie möglich aufzulösen.

Die Polizei wiederum konnte ebenso wenig wie die Armee begreifen, wieso die Aufständischen nicht abhauten, wenn der Befehl, die Gewehre anzulegen, erteilt wurde. Sie verstanden nicht, dass es für diese Menschen, die in ihrem eigenen Bezirk angegriffen wurden, gar keine Rückzugsmöglichkeit mehr gab. Und sie verstanden nicht, dass Menschen, die für ihre eigenen Interessen kämpfen, sich anders verhalten als zum Dienst für fremde Interessen verpflichtete Soldaten.

Verlorene Schlacht

Der Aufstand in Neu-Ottakring endete noch am Abend des 17. September 1911. Er endete mit dem Einsatz nahezu der gesamten in Wien verfügbaren Truppen gegen die Bevölkerung eines einzigen Bezirksteiles. Er endete mit der militärischen Besetzung des gesamten Bezirks, mit drei toten und hunderten verletzten BewohnerInnen. Und er sollte so rasch wie möglich aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden, das war sowohl die Absicht der Regierung und der Bourgeoisie als auch der sozialdemokratischen Führung.

Er hatte gezeigt, dass es keinerlei Vertrauen der Vorstadtbevölkerung in die Regierung mehr gab. Er hatte auch gezeigt, dass die Menschen genug hatten von den Reden der sozialdemokratischen Opposition. Und dass sie verstanden hatten, dass „geordnete, disziplinierte Demonstrationen“ nichts ändern. Dieser Aufstand musste so rasch wie möglich unterdrückt werden, ehe er sich so weit entwickeln konnte, dass die Menschen selbstorganisiert ihr Leben in die Hand nahmen.

Wohin selbstorganisierter Widerstand führen kann, lernen wir zur Zeit etwa von den ÄgypterInnen. Die Zugeständnisse, die die Militärs gemacht haben, indem sie Präsident Mubarak verhafteten und anklagten, können die Menschen nicht mehr beruhigen. In immer neuen Mobilisierungen stellen sie immer weitergehende Forderungen, die schließlich nicht nur die Militärführung, sondern das Prinzip der kapitalistischen Verwertung selbst betreffen könnten.

Nicht vergessen

Der 17. Septemer 1911 in Neu-Ottakring ist uns wichtig, und deshalb erinnern wir an ihn. Er ist in vielerlei Hinsicht aktuell. Spekulation mit Lebensmitteln und Wohnraum, Überwachung und Unterdrückung sind so wenig Geschichte wie ihre Ursache, die kapitalistische Verwertung – und der Kampf dagegen.

Am 17. September 2011 werden wir einige der Brennpunkte des Aufstands von 1911 besuchen und neben der Erinnerung an die Ereignisse vor 100 Jahren auch Parallelen zu heute ziehen. Wir gedenken der KämpferInnen in angemessener Form, indem wir sie nicht vergessen, indem wir aus ihren Fehlern lernen, und indem wir den Kampf um ein besseres Leben weiterführen.

Samstag, 17.9.2011

12 Uhr – Volxküche, Infostand und szenische Interventionen am Yppenplatz
16 Uhr – Treffpunkt am Schuhmeierplatz für einen Rundgang durch das aufständische Ottakring
18 Uhr – Straßenfest am Hofferplatz mit Infos, Live-Musik und Volksküche
22 Uhr – Fortsetzung im BOEM* http://boem.postism.org (Koppstraße 26)

Donnerstag, 22.9.2011

20 Uhr – Diskussion mit Wolfgang Maderthaner und Susan Zimmermann (HistorikerInnen) im BOEM* http://boem.postism.org (Koppstraße 26)