by ANTI BLA
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12 Uhr – Volxküche, Infostand und szenische Interventionen am Yppenplatz
16 Uhr – Treffpunkt am Schuhmeierplatz für einen Rundgang durch das aufständische Ottakring
18 Uhr – Straßenfest am Hofferplatz mit Infos, Live-Musik und Volksküche
22 Uhr – Fortsetzung im BOEM* http://boem.postism.org (Koppstraße 26)
20 Uhr – Diskussion mit Wolfgang Maderthaner und Susan Zimmermann (HistorikerInnen) im BOEM*
http://boem.postism.org (Koppstraße 26)
Nach den Vorfällen in der Panikengasse, bei der das Wachzimmer angegriffen worden ist, ist ein Teil der DemonstrantInnen zum Hofferplatz gezogen und hat erstmal die dort stationierte Polizei vertrieben. Während in der Thaliastraße Barrikaden gebaut worden sind, haben am Hofferplatz etwa hundert Jugendliche die Schule angegriffen. Sie haben die Fenster eingeschlagen, sind in die Schule rein, haben die Lehrmittel zerstört und die Bänke auf die Straße geworfen, wo sie zum Barrikadenbau verwendet worden sind.
Die Kämpfe am Hofferplatz haben bis gegen achtzehn Uhr gedauert. Erst die zu Hilfe geholte Infanterie hat es geschafft, den Hofferplatz zu räumen, und dann ist hier das Hauptquartier der Repressionskräfte aufgebaut worden. Es war ein richtiges Heerlager mitten im Wohnbezirk, mit zu Pyramiden zusammengestellten Gewehren und am Boden lagernden Soldaten.
Von hier aus sind dann Truppen in alle Teile Ottakrings dirigiert worden. Die Thaliastraße ist schließlich vom Militär besetzt worden, die Vorortelinie von der Polizei, auf der Schmelz waren starke Truppenverbände stationiert, und am Richard Wagner-Platz und am Habsburgplatz ebenfalls. Der Gürtel war gesperrt, das ganze Viertel war hermetisch abgeriegelt, und in den wichtigen Quergassen wie der Kreitnergasse hat es ebenfalls von Repressionskräften gewimmelt.
Zusätzlich ist angeordnet worden, dass alle Haustore um 20 Uhr zu schließen sind, die Gasthäuser um 21 Uhr Sperrstunde haben und eine nächtliche Ausgangssperre ist verhängt worden. Wer im Dunkeln unterwegs war, hat riskiert, erst verprügelt und danach verhaftet und wegen fadenscheiniger Anschuldigungen zu unbedingtem Arrest verurteilt zu werden.
Insgesamt hat dieser Aufstand fünf Todesopfer gefordert, vier sind am 17. September von Polizei und Militär umgebracht worden, ein weiterer Demonstrant hat sich in der Untersuchungshaft das Leben genommen.
Hunderte Menschen sind verletzt worden, von denen sicherlich viele nicht ins Spital gegangen sind aus Angst davor, auch noch angezeigt zu werden. Einige von ihnen sind angeschossen worden, viele haben Schlag- und Stichwunden von den Säbeln und Bajonetten davongetragen und noch viel mehr sind von der Polizei und den Soldaten verprügelt worden.
Mehrere hundert Menschen sind vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen von mehreren Tagen bis zu 15 Monaten verurteilt worden.
In den folgenden Tagen ist der Aufstand da und dort in der Stadt nochmal kurz aufgeflackert, in anderen Städten hat es Solidaritätskundgebungen gegeben, aber das war es dann auch.
Und drei Jahre später hat der Weltkrieg mit dafür gesorgt, dass dieser Teil unserer Geschichte, der 17. September 1911, in Vergessenheit geraten ist. Wer hätte auch ein Interesse daran gehabt, daran zu erinnern?
Die Regierung und die Kapitalisten sicherlich nicht, denn der Aufstand hat allen gezeigt, unter welch miesen Bedingungen die arbeitenden Menschen hier leben haben müssen, und was ihnen blüht, wenn sie sich dagegen wehren.
Die Sozialdemokratie hat aber auch kein Interesse daran gehabt, diesen Aufstand an die große Glocke zu hängen. Denn er hat gezeigt, dass die Leute genug gehabt haben von den Reden im Parlament und den disziplinierten Aufmärschen, die nichts gebracht haben.
Die sozialdemokratischen Führer waren längst auf ihrem Weg durch die Institutionen, und da sind solche riots wie der in Ottakring eher hinderlich als karrierebefördernd. Wir kennen das auch vom deutschen Grünen Joschka Fischer, der in den 70er Jahren in Frankfurt als „Straßenkämpfer“ begonnen hat. Als Außenminister hat er dann „selbstverständlich“ die „Gewalt auf der Straße“ verurteilt. Den Angriffskrieg der NATO auf Jugoslawien, bei dem Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Verkehrsinfrastruktur in viel größerem Ausmaß zerstört worden sind als 1911 in Ottakring, hat dieser Paradegrüne natürlich gutgeheißen.
Für die sozialdemokratische Führung von 1911 waren die Proteste auf der Straße auch nicht mehr als ein Ventil, bei dem die Mitglieder Dampf ablassen, also vorgegebene Parolen schreien sollten. Die Politik sollte im Parlament stattfinden. Damit hat die Sozialdemokratie einen Schwenk vollzogen, so wie später die österreichischen Grünen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Als die ersten Abgeordneten ins Parlament eingezogen sind, war keine Rede mehr von Basisdemokratie, vom Rotationsprinzip, vom damals sogenannten „Spielbein Parlament“. Im Gegenteil, dieses Spielbein hat nun den Vorrang vor jeglicher selbständigen Unmutsäußerung der Basis, auch wenn die Erfolge dieser parlamentarischen Politik so marginal sind wie der sozialdemokratischen 1911.
Das Arbeiterheim Ottakring ist 1905 gebaut worden. Dazu hat die Sozialdemokratie einen Kredit von der Brauerei Ottakringer bekommen, die im Gegenzug das Monopol für die Bierausschank im Arbeiterheim erhalten hat. Beim Bau des Arbeiterheims ist es zu einem Konflikt mit dem Baumeister gekommen, worauf die Arbeiter in den Streik getreten sind. Streikführer war der spätere ÖGB-Präsident Johann Böhm. Er ist schließlich von Franz Schuhmeier, dem Bezirksvorsitzenden der Sozialdemokraten, so unter Druck gesetzt worden, dass der Streik abgebrochen worden ist.
Im Haus hat es ein Gasthaus, ein Café, einen Theatersaal für 1.500 Leute und 40 Wohnungen gegeben, die als Vorbild für gute ArbeiterInnenwohnungen gelten haben sollen, mit ausreichend Belichtung und sogar Zentralheizung.
Am 17. September 1911 ist vor dem Haus der Arbeiter Otto Brötzenberger von einem Soldaten umgebracht worden. Begonnen haben die Auseinandersetzungen hier, wie eine Gruppe Infanterie die Koppstraße raufgekommen ist, um die Straße von DemonstrantInnen zu „säubern“. Zur gleichen Zeit haben mehrere Jugendliche, die gerade in der Volksschule in der Koppstraße die Fenster eingeworfen hatten, sich bei der Klausgasse auf einem Hügel gesammelt. Und dann ist noch eine Gruppe DemonstrantInnen dazu gekommen, die zum Arbeiterheim gehen wollten.
Die Infanterie hat also an der Ecke Koppstraße/Klausgasse niemand durchgelassen, und die Leute haben erstmal mit Sprechchören dagegen protestiert. Dann hat ein Zivilpolizist einen Demonstranten festnehmen wollen, und jetzt haben die Jugendlichen von der Anhöhe aus begonnen, Steine auf die Polizei und die Soldaten zu werfen, während unten die DemonstrantInnen versucht haben, den Gefangenen wieder zu befreien, was ihnen schließlich auch gelungen ist.
Als aber die Steinwürfe weiter angedauert haben, hat der Offizier vor Ort mit Waffeneinsatz gedroht und damit die Leute erst recht provoziert. Sie waren kaum einen Meter von den Soldaten entfernt, als der Offizier das Kommando „Feuer!“ erteilt hat. Die Schüsse haben sich gegen die steinewerfenden Jugendlichen gerichtet, von denen zum Glück niemand getroffen worden ist.
Die Leute in der Straße waren jetzt erst recht aufgebracht und sind gegen die Infanterie gestürmt, sowohl von der Koppstraße als auch von der Klausgasse aus. Während eine weitere Einheit Infanterie durch die Koppstraße dazu gekommen ist, hat ein Offizier wiederum „Feuer!“ befohlen, und jetzt sind mehrere Leute auf der Straße zu Boden gegangen und der Rest ist geflüchtet.
Die Soldaten haben die DemonstrantInnen mit gefällten Bajonetten verfolgt, und vor dem Arbeiterheim ist Otto Brötzenberger gestanden, ein junger Arbeiter, der gerade aus dem Heim herausgekommen ist und nicht gewusst hat, was los ist. Sofort hat ihn ein Soldat mit dem Bajonett angegriffen und direkt in das Herz gestochen. Brötzenberger hat sich noch in das Arbeiterheim schleppen können, dort ist er dann gestorben.
Noch mehr Verletzte sind in das Arbeiterheim gebracht worden, der Arbeiter Hawral mit einem Brustdurchschuss, Franz Joachimsthaler mit einem Bauchschuss und die 15jährige Hilfsarbeiterin Marie Schmiedel, die von einer Kugel am Schenkel getroffen worden ist. Wie viele noch durch die Schießerei verletzt worden sind, wissen wir nicht, weil sich vermutlich einige in Wohnhäuser geflüchtet und gehütet haben, ins Spital zu gehen. Franz Joachimsthaler jedenfalls ist innerhalb weniger Tage an den Folgen seiner Verwundung gestorben.
Nach diesen Auseinandersetzungen haben die Polizei und das Militär den Zugang zum Arbeiterheim gesperrt und niemand mehr hinein- oder hinausgelassen. Damit haben sich die Zentren des Aufstands stadtauswärts verlagert, vor allem auf den Habsburgplatz, von dem wir schon gehört haben.
Im Februar 1934 war das Arbeiterheim eines der Zentren des Widerstands. Hier haben Schutzbündler und andere revolutionär gesinnte ArbeiterInnen zwei Tage gegen Polizei, Heimwehr und Armee gekämpft, bis sie schließlich nach massivem Kanonenbeschuss besiegt worden sind. Anschließend ist das schwer beschädigte Haus von den Austrofaschisten niedergerissen worden.
Gegen drei, halb vier Uhr am 17. September 1911 haben Aufständische die Wachstube in der Panikengasse angegriffen. Dazu haben sie erstmal von der Haltestelle der Straßenbahn Eisenstangen besorgt, und damit haben sie dann die Einrichtung der Wachstube zerstört. Den Telegraph, der im Wachzimmer war, haben sie auf die Straße geworfen.
Auch Straßenbahnwagen sind in der Panikengasse angegriffen worden. Die DemonstrantInnen haben die Wagen angehalten, die Fahrgäste aussteigen lassen, und dann haben sie den Wagen umgeworfen und als Barrikade benutzt. Einige Straßenbahnen sind auch angezündet worden.
Und dann ist noch die Schule in der Panikengasse, wie fast alle Schulen im Bezirk, angegriffen und verwüstet worden. Das Feuer, das die Jugendlichen dort gelegt haben, ist allerdings von der Polizei rasch wieder gelöscht worden.
Kurz nach vier Uhr ist in der Panikengasse dann auf DemonstrantInnen geschossen worden, dabei ist ein junges Mädchen im Unterleib getroffen worden.
Kaum eine Woche nach dem Aufstand ist dann ein 24jähriger Schlossergeselle zu 15 Monaten schweren Kerker verurteilt worden, weil er in der Panikengasse Steine auf Polizisten geworfen haben soll. Ein Hilfsarbeiter hat einen Monat Arrest bekommen, weil er der Wache zugerufen hat „Auslassen! Die haben ja gar nichts gemacht!“
Dass Polizisten und Militärs, die auf Menschen geschossen und mit ihren Bajonetten und Säbeln eingestochen und gedroschen haben, verurteilt worden sind, haben wir nirgendwo finden können.
Hier, bei der Heilig-Geist-Kirche, haben Spezialeinheiten der Armee Aufständische angegriffen, die sogenannten „Bosniaken“. Diese Infanterie-Einheit, die nur ursprünglich aus bosnischen Armeeangehörigen bestanden hat, war eine Elitetruppe innerhalb der k.u.k.-Armee, in der u.a. der spätere österreichische Bundespräsident Adolf Schärf gedient hat.
Ein wenig weiter stadteinwärts liegt auf der rechten Seite die Radetzky-Kaserne, ein riesiger Komplex, errichtet in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie lag am Rand des Truppenübungsplatzes, der sich über die gesamte, damals noch viel größere Schmelz gezogen hat. Im Februar 1934 sind von dieser Kaserne aus die Aufständischen gegen den Austro-Faschismus, die sich in Gemeindebauten verschanzt haben, beschossen worden. Und während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ist hier eine SS-Einheit stationiert gewesen.
Auf Teilen des Truppenübungsplatzes ist in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts der Ortsteils Neu-Ottakring entstanden, durch den wir heute gehen. Das ist ein auf dem Reißbrett entworfenes Grätzl mit schnurgeraden Straßen, ideal zur Aufstandsbekämpfung. Da, wo heute noch die Schmelz ist, war 1911 unter anderem die Dampfkraftgewinnungsanstalt, und die ist auch von den DemonstrantInnen angegriffen worden.
Und von der Schmelz her haben Gruppen von Jugendlichen am 17. September 1911 immer wieder Angriffe gegen die Polizei und die Soldaten durchgeführt. Sie sind aufgetaucht, haben Steine geworfen und sind wieder im Dunkel der G’stätt’n verschwunden.
Die Sozialdemokratie hat später verbreitet, dass es vor allem Jugendliche und Arbeitslose, „Lumpenproletariat“ genannt, waren, die diesen Aufstand durchgeführt haben. Aber in ihrer eigenen Zeitung, der Arbeiter-Zeitung, lesen wir von einer Ottakringer Arbeiterin, die zum Redakteur meint: „Die Weiber haben die Staner hergeschleppt in die Schürzen und die Buben haben’s geschmissen. Schauen’S nur, net a Fenster ist ganz da bei der Anstalt.“ Und sie meint damit die Impfstoffgewinnungsanstalt, die neben der Schule am Schuhmeierplatz lag.
Und an anderer Stelle gibt die Arbeiter-Zeitung die Stimmung der DemonstrantInnen so wieder: „Als auf der Ringstraße die ersten Steine flogen, drängte sich einer unserer Vertrauensmänner in die erste Reihe der Demonstranten und mit dem Aufgebot seiner ganzen Stimmittel suchte er die erbitterte Menge von dem ziellosen Zerstörungswerk abzuhalten. Da legte eine alte Frau ihre Hand auf seine Schulter und rief ihm zu: ‚Lassen Sie doch die Leute! Was soll man denn tun, wenn das Kilo Zucker mehr als eine Krone kostet?’ Das war die Stimmung der Tausenden.“ Es waren also wohl doch die ArbeiterInnen, die diesen Aufstand getragen haben.
Vier Menschen sind am 17. September 1911 vom Militär und der Polizei durch Bajonettstiche, Säbelhiebe oder Schüsse umgebracht, ungefähr 130 Personen zum Teil schwer verletzt worden. Die meisten Opfer waren junge ArbeiterInnen, Otto Brötzenberger beispielsweise ein 21jähriger Eisenbieger, Franz Joachimsthaler ein 24jähriger Schlosser und Mitglied einer sozialdemokratischen Jugendgruppe. Nach beiden sind heute Orte in Ottakring benannt. Ein Mann hat sich in der Untersuchungshaft das Leben genommen.
Gleich nach dem 17. September hat eine Welle von Gerichtsprozessen gegen die rund 500 Verhafteten, von denen die meisten in Untersuchungshaft geblieben sind, eingesetzt. Dabei waren die allermeisten Delikte eher Bagatellen, nämlich Teilnahme an der Demonstration, Widersetzlichkeit gegen die Wache (das waren oftmals nur Rufe wie „Lasst die Gefangenen frei!“ und ähnliche) und Sachbeschädigung durch Steinwürfe.
Die Sozialdemokratische Partei hat den Angeklagten Anwälte zur Verfügung gestellt, aber die Verteidigungsstrategie war verheerend. Die Partei ist natürlich von der Presse und der Regierung scharf angegriffen und als Drahtzieherin des Aufstands denunziert worden. Deshalb haben die Anwälte versucht, ihre Angeklagten als Einzeltäter ohne politischen Hintergrund zu präsentieren. Und damit sind politische Prozesse, die diese Verfahren ja waren, als ganz normale Kriminalfälle geworden abgehandelt worden.
Kaum ein Angeklagter hat sich, zumindest aus dem, was uns an entsprechenden Zeitungsberichten vorliegt, gegen die Anschuldigungen gewehrt, kaum einer hat auf die Teuerungen und die Wohnungsnot als Ursache der Proteste hingewiesen, kaum einer auf die Provokationen der Polizei und der Armee, auf die Misshandlungen beim Verhör und die konstruierten Anklagen.
Den Angeklagten hat die Entpolitisierungsstrategie in keiner Weise genützt, die Strafen, die sie ausgefasst haben, waren drakonisch. Für einen Steinwurf, der einen Laternenmast demoliert hat, ist ein Jahr unbedingte Gefängnisstrafe verhängt worden. Selbst für den Ruf „Hoch die Anarchie!“ haben die Richter noch drei Monate Gefängnis verhängt. Als strafverschärfend ist die Mitgliedschaft in einer ArbeiterInnenorganisation hinzugekommen, strafmildern hingegen haben sich Beziehungen, etwa die von Verwandten zu höheren Kreisen der Veraltung, ausgewirkt.
Besonders hart sind junge, arme Menschen bestraft worden, auf die sich die Teuerungen doch besonders stark ausgewirkt haben. Die Urteile haben vor allem der Abschreckung gedient, und deshalb haben die Verfahren rasch erledigt werden müssen, damit niemand auf die Idee kommt, sich noch einmal gegen die Obrigkeit aufzulehnen.
Die juristische Abwicklung der riots in London 2011 ist genau demselben Muster gefolgt. Da haben plötzlich eine Menge Richter Überstunden eingeschoben, damit die Angeklagten in Schnellverfahren möglichst rasch zu abschreckend hohen Strafen verurteilt werden. Und so wie schon 1911 in Wien, und wie übrigens fast immer bei solchen Anlässen, sind die Belastungszeugen fast ausschließlich die Polizisten gewesen, die die Leute festgenommen haben. Bekannte der Angeklagten sind als Zeugen fast durchweg für unglaubwürdig erklärt oder gar selbst mit einem Gerichtsverfahren überzogen worden.
Leider haben es auch viele der Betroffenen den Gerichten leicht gemacht. Um rascher aus dem Gefängnis zu kommen, haben sie auf eine Voruntersuchung verzichtet. In der Hoffnung, dass ein Geständnis als mildernd gewertet wird, haben viele kleine Vergehen zugegeben. Dabei heißt es doch bekanntlich vor Gericht „sagst du ja, bleibst du da – sagst du nichts, gehst du heim“. Die Richter haben das alles gegen die Angeklagten verwendet und sie erst recht zu unbedingten Haftstrafen verurteilt.
Dieser Platz, auf dem wir uns hier befinden, ist nach dem Chef der Ottakringer Sozialdemokraten zur Zeit des Aufstands 1911, Franz Schuhmeier, benannt. Schuhmeier selbst ist 1913 von Paul Kunschak, einem Bruder des späteren christlich-sozialen Nationalratspräsidenten Leopold Kunschak, am Nordbahnhof erschossen worden, es war ein politisch motiviertes Attentat. Sein Begräbnis ist zur größten Demonstration geworden, die Wien gesehen hat, fast eine halbe Million Menschen haben daran teilgenommen. Der Mörder ist 1918 im Zuge der allgemeinen politischen Amnestie nach Kriegsende wieder freigekommen. 1911 hat der Platz hier noch Habsburgplatz geheißen, aber die Schule hat es bereits gegeben.
Am Schuhmeierplatz hat es die längsten und härtesten Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen, vor allem Jugendlichen auf der einen und Polizei und Armee auf der anderen Seite gegeben.
Ausgelöst worden sind die Auseinandersetzungen hier durch einen Militäreinsatz beim Arbeiterheim gegen 16 Uhr, über den wir später noch berichten werden. Nach diesem Militäreinsatz ist ein Teil der Demonstranten hierher auf den Habsburgplatz gezogen, darunter viele Jugendliche, die zum Teil SchülerInnen der Schule hier gewesen sind.
Wie überall haben auch hier die DemonstrantInnen alle Laternen zerstört. Sie haben die Fensterscheiben der Schule eingeworfen, und mit einem Holzpfosten das Schultor eingedrückt. Einige Jugendliche sind in das Gebäude eingedrungen, haben Schulbänke aus den Fenstern geworfen, die draußen zu Barrikaden verarbeitet worden sind, und haben Zeugnisse, Hefte und Klassenbücher vernichtet.
Vor der Schule haben inzwischen andere aus dem Umfriedungsgitter der Schule Eisenstangen herausgebrochen und damit weitere Fenster eingeschlagen. Aus Schulbänken und Bauholz von einer nahen Baustelle sind dann zwei Scheiterhaufen errichtet und angezündet worden. Schließlich ist in der Schule die Wohnung des Schuldieners, der zu dieser Zeit unterwegs war, um die Polizei zu Hilfe zu rufen, in Brand gesteckt worden.
Um halb sieben Uhr hat dann der Polizeichef, der zu dieser Zeit am Hofferplatz war, Polizei und Militär zum Habsburgplatz geschickt. Die sind über die Thaliastraße vorgerückt, es waren einige Kompanien Infanterie und größere Kavallerieabteilungen dabei.
In der Thaliastraße haben zuvor schon Aufständische Eisendrähte quer über die Fahrbahn gespannt, um die Kavallerie am Vorkommen zu hindern. Zusätzlich sind mehrere Barrikaden quer über die Straße errichtet worden. Dazu haben die Aufständischen Bänke aus den Parks, Gasrohre und Material von Baustellen verwendet. Die Soldaten haben es also nicht leicht gehabt, vom Hofferplatz herauf zum Habsburgplatz zu kommen. Mehrere haben sich in den Drähten verheddert und sind vom Pferd gestürzt, dann haben sie erst die Menschen hinter den Barrikaden vertreiben müssen, ehe die Barrikaden abgebaut haben werden können. Und dazu sind die Soldaten immer wieder von den Häusern aus mit Gegenständen aller Art beworfen worden.
Die Feuerwehr ist vor den Soldaten am Habsburgplatz eingetroffen, und auch sie ist angegriffen worden. Zwischen die Beine der Pferde haben die Leute Sessel geworfen und sie so zu Sturz gebracht. Die Feuerwehrleute sind mit Stöcken und Steinen bedacht worden. Erst als das Militär und die Polizei am Habsburgplatz eingetroffen sind, haben die Feuer gelöscht werden können.
Trotzdem haben die Auseinandersetzungen am Habsburgplatz noch weiter angedauert, erst um halb zehn Uhr abends, als es im ganzen Bezirk schon stockfinster war, die Haustore auf Befehl der Polizei abgesperrt haben werden müssen, enden am Habsburgplatz die Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und den staatlichen Repressionskräften. Danach wird hier Kavallerie stationiert, der Platz gleicht einem Heerlager.
Die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung war sich nach dem 17. September mit den bürgerlichen Zeitungen einig: Die Zerstörungen an diesem Tag waren das Werk von „gewissenlosen Skandalmachern“ und Provokateuren, von „Jugendbanden“ und „Lumpenproletariat“, Darüber waren sich übrigens auch die Zeitungen in ihrer Berichterstattung über die riots in London und anderen britischen Städten in diesem Sommer einig.
Verschwiegen worden ist sowohl im heurigen Sommer als auch 1911, dass die Aufstände jeweils mit Provokationen durch die Polizei begonnen haben. In Wien 1911 waren das die Einkesselungen der abziehenden oder noch vor dem Rathaus stehenden DemonstrantInnen und die folgenden Angriffe auf die Eingekesselten.
In London hat die Polizei am 4. August 2011 den 29jährigen Aktivisten Mark Duggan einfach erschossen. Als eine aufgebrachte Menge vor dem zuständigen Polizeikommissariat Aufklärung über diesen Mord gefordert hat, ist eine 16jährige Kundgebungsteilnehmerin vor den Augen ihrer FreundInnen von 15 Polizisten zusammengeschlagen worden. Das erst hat das Fass zum Überlaufen gebracht.
Die Angriffsziele der Aufständischen 1911 waren die öffentliche Beleuchtung und der Verkehr, öffentliche Gebäude und Fabriken, wobei letztere sehr rasch von der Polizei genauestens bewacht worden sind.
Die Zerstörung der Straßenbeleuchtung hat, zusammen mit dem Barrikadenbau und dem Lahmlegen der Straßenbahnen, dazu gedient, der Gegenseite ein Eindringen in den Bezirk zu erschweren und die strafrechtliche Verfolgung von Beteiligten zu verunmöglichen. Heute kommt zur Beleuchtung die Videoüberwachung hinzu, und die ist gerade in London nahezu lückenlos. Die Polizei hat dann auch Aufnahmen von öffentlichen und privaten Videokameras dazu verwendet, sogenannte StraftäterInnen auszuforschen und die Bilder auf öffentlich aufgestellten Großbildschirmen gezeigt.
Die Schulen waren ganz offensichtlich bei den Ottakringer Jugendlichen besonders verhasst, und wir müssen uns dazu in Erinnerung rufen, dass die Prügelstrafe damals als sogenanntes Disziplinierungsinstrument im Unterricht gang und gäbe war.
Es ist also Unsinn zu meinen, der Ottakringer Aufstand sei völlig plan- und ziellos verlaufen. Was gefehlt hat, war eine Koordinierung unter den Aufständischen. Die Versuche, die Aktionen zu koordinieren, sind in London wiederum zum Teil über die Handys gelaufen, und auch das haben die Gerichte ausgenutzt, um Menschen zu drakonischen Haftstrafen zu verurteilen, bloß weil sie sich mit anderen telefonisch verabredet haben.
Willkommen bei unserem Rundgang durch Ottakring anläßlich des 100. Jahrestages des Aufstands in diesem Bezirk. Das Grätzl zwischen Gürtel, Thaliastraße, Vorortelinie und Gablenzgasse ist in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bebaut worden. Davor war es Teil des riesigen Truppenübungsplatzes Schmelz.
Um uns in der Zeit, über die wir heute sprechen wollen, zurecht zu finden, wollen wir erstmal ein wenig zurückblicken. Wie wir spätestens seit 2008 wieder wissen, funktioniert die kapitalistische Wirtschaft, die Warenwirtschaft … nicht. Sie schafft immer neue Höhenflüge, um immer wieder am Bauch zu landen, in der Sprache der Wirtschaftswissenschaften nennen wir das Konjunktur und Krise.
Um es kurz zu machen: Nach der Weltwirtschaftskrise 1873 haben die industrialisierten Länder fast 20 Jahre gebraucht, um aus der Stagnation herauszukommen.
Aber in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ist dann die Industrialisierung in unerhörtem Maß vorangeschritten, und die Nachfrage nach Arbeitskräften entsprechend gestiegen. Deshalb ist es zu einer riesigen Migration von Menschen, vor allem aus ländlichen Gebieten, nach Wien gekommen. Die EinwohnerInnenanzahl hat sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten auf 2 Millionen verdoppelt.
Im Jahr 1910 waren die Mehrheit der Wiener Bevölkerung MigrantInnen, von denen fast die Hälfte aus Böhmen und Mähren gekommen ist. Dieser Zuzug war durchaus geplant, die Lehrlinge und ArbeiterInnen sind oft über private Agenten angeworben worden, ähnlich wie dann wieder in den 1960er Jahren. Und beide Male waren vor allem unqualifizierte ArbeiterInnen gefragt, weil die billig gewesen sind und– zumindest haben die Unternehmer sich das so gedacht – leicht zu kontrollieren und im Zaum zu halten. Naja.
Diese MigrantInnen haben sich wiedergefunden in den ebenfalls geplanten, neu errichteten Vororten außerhalb des Gürtels. Das waren am Reißbrett entworfene Siedlungen mit schnurgeraden Straßen, mit standardisierten Wohnungen, d.h. Substandardwohnungen mit Clo und Wasser am Gang. Und weil die Nachfrage nach Wohnungen das Angebot übertroffen hat, mit horrenden Mietzinsen.
Um 1911 hat es in Wien also eine verheerende Wohnungsnot gegeben, und dazu sind die ständigen Preissteigerungen bei Lebensmitteln gekommen. Das hat nicht nur für Wien gegolten, das war in Frankreich oder England nicht viel anders. Und deshalb hat es auch in vielen Ländern und Städten Hungerrevolten gegeben, Streiks, Mietzinsboykotte und so weiter. In Wien hat sich durch die Teuerung die Kaufkraft des Geldes um wenigsens ein Drittel verringert. Ab Anfang September hat es in den ArbeiterInnenbezirken Versammlungen zu diesem Thema gegeben, bei denen bereits absehbar war, wie wütend die Menschen über diese Entwicklung waren.
Für den 17. September 1911 hat die Wiener Sozialdemokratie dann zu einer Kundgebung gegen die Teuerungen aufgerufen. Und es sind viel mehr Menschen gekommen, als die SP gedacht hätte, nämlich um die 100.000. Deshalb hat die Kundgebung dann auch nicht im Rathaus, sondern davor stattgefunden.
Und gekommen sind auch fast alle Wiener Polizisten und große Teile des in Wien stationierten Heeres. Wie nun die Kundgebung aus war, das war gegen 11 Uhr vormittags, und als die meisten DemonstrantInnen den Rathausplatz bereits verlassen gehabt haben, hat das Militär den gesamten Platz eingekesselt, auf dem noch tausende Leute waren. Und die Polizei hat damit begonnen, die Leute vom Platz zu jagen. Also sind diese Leute zwangsläufig auf das Militär gestoßen, und es hat die ersten Verletzten gegeben, bis die Menge dann an einer Stelle durchbrechen hat können.
Und während diese DemonstrantInnen zuvor noch die Soldaten willkommen geheißen haben, waren sie jetzt so richtig aufgebracht. Ihr Zorn hat sich erst gegen das Rathaus gerichtet, weil es geheißen hat, dass dort jemand Kohlestücke runtergeschmissen hätte. So sind auf zwei Seiten vom Rathaus so ziemlich alle Fensterscheiben bis in den 1. Stock eingeworfen worden, und danach beim Bezirksamt in der Schmidgasse gleich hinter dem Rathaus.
Ein Teil der DemonstrantInnen, die vorher schon abzegogen sind, ist beim äußeren Burgtor aufgehalten worden und wieder in einen Kessel geraten. Dann hat es geheißen, es sei aus dem Verwaltungsgerichtshof auf sie geschossen worden. Der war damals im heutigen Palais Epstein am Ring bei der Bellaria untergebracht. Also hat sich die Wut an diesem Gebäude ausgelassen, und erst sind hier, danach beim Justizpalast, der dahinter liegt, die Fensterscheiben eingeworfen worden.
Dann haben Polizei und Militär bereits Jagd auf diese großen Gruppen von DemonstrantInnen gemacht und sie über die 2er Linie in Richtung Ottakring gedrängt. Vor allem in der Burggasse und der Lerchenfelderstraße sind so ziemlich alle Laternen von den DemonstrantInnen zerschlagen worden. Auch viele Geschäfte, vor allem Papiergeschäfte, sind demoliert worden.
Am Gürtel haben die DemonstrantInnen erste Barrikaden errichtet, dazu haben sie auch Straßenbahnwagen benutzt. Und so hat sich aus der Kundgebung ein Aufstand entwickelt, der schließlich hier, in Ottakring, seinen Höhepunkt gefunden hat.
Wir werden jetzt einen Rundgang durch das Gebiet machen, in dem dieser Aufstand stattgefunden hat. Wir werden ein bißchen erzählen, was an den besuchten Orten vorgefallen ist. Und wir werden versuchen, Parallelen zu heute zu ziehen. Beginnen wir gleich damit:
So wie 1911 gibt es auch heute überteuerte Mieten, und so wie damals steigen gerade in den letzten Jahren die Preise für Lebensmittel und Energie enorm an. Ein kleiner Preissteigerungs-Rap für Wien 2011 gefällig? 2
Kategoriemietzinse, Verwaltungskostenpauschale bei den Wohnungs-Betriebskosten 5% Erhöhung
Kostenbeitrag für mobile Pflege 5,5% Erhöhung
Eier, Milchprodukte 6% Preissteigerung
Abwasser, Müllgebühr 6,2% Erhöhung
Obst, Fernwärme 8% Preissteigerung
Gas 15,5% Preissteigerung
Benzin 17% Preissteigerung
Kaffeee 27% Preissteigerung
Wasser 33% Preissteigerung
Zucker 35% Preissteigerung
Die Arbeiterkammer rechnet für heuer mit einer realen Inflation, d.h. mit Preissteigerungen bei Produkten und Dienstleistungen, die arbeitende Menschen hauptsächlich kaufen müssen, um 6,9%, und damit ist die Inflation, die uns tatsächlich betrifft, ungefähr doppelt so hoch wie die offiziell angegebene.
Noch schlimmer steht es um die Lebensmittelteuerungen, wenn wir uns die Welt insgesamt ansehen. Seit 1990 sind die Lebensmittelpreise um 230% angestiegen. Allein zwischen Oktober 2010 und Jänner 2011 waren es weitere 15%, wodurch weitere 44 Millionen Menschen auf dieser Welt in extreme Armut gedrängt worden sind. Insgesamt hungern heute 1Milliarde Menschen weltweit, das heißt jeder siebte Mensch ist unterernährt.
Dieser Hunger ist gemacht. Mais, Soja und andere Lebensmittel werden verstärkt zur Biosprit-Produktion herangezogen, deshalb haben schon Anfang 2007 in Mexiko erste Aufstände stattgefunden. Im Jahr 2008 haben sich diese Brotunruhen auf d08:46 12.09.2011en ganzen Erdball ausgedehnt:
In Haiti ist 2008 der Premierminister ausgetauscht worden, nachdem bei Hungerrevolten fünf Menschen ums Leben gekommen sind.
In Mahalla al-Kubra in Ägypten haben sich tausende ArbeiterInnen Straßenschlachten mit der Polizei geliefert, in Thailand, auf den Philippinen, in Marokko hat es Demonstrationen und Aufstände gegeben. Und wie haben diese Aufstände ausgesehen?
Erst kommt es zu mehr oder weniger spontanen Aufläufen von protestierenden Menschen auf der Straße, die sich über die Preiserhöhungen beschweren. Dann kommt die Polizei und versucht, diese Zusammenkünfte aufzulösen, was die Wut der Menschen nur noch steigert. Und schließlich beginnen meist junge Menschen, Barrikaden zu errichten, Steine gegen die Sicherheitskräfte und gegen Schaufenster zu werfen und wo möglich Geschäfte zu plündern. Jetzt geht die Polizei mit verstärkter Gewalt gegen die DemonstrantInnen vor, allzu oft gibt es dabei Todesopfer zu beklagen. Und in den darauffolgenden Wochen gibt es Serien von Prozessen gegen die DemonstrantInnen oder auch Unbeteiligte.
Vielleicht versucht auch die Regierung zu beschwichtigen, indem kurzfristig einige Lebensmittelpreise per Subventionierung gesenkt werden, was im Endeffekt auch nur heißt, dass die SteuerzahlerInnen den vollen Preis bezahlen und die Unternehmer weiterhin den vollen Gewinn einstreifen können.
Es hat sich also seit 1911 zwar einiges geändert, das grundlegende Problem für die Veschlechterung der Lebenssituation der meisten Menschen ist aber immer noch das gleiche. Wir können es schlicht Diebstahl in unglaublichem Ausmaß durch die Unternehmer nennen, oder, wem das besser gefällt, Profitmaximierung innerhalb der kapitalistischen Verwertung.
Kein Wunder also, dass die Geschichte des Kapitalismus auch eine Geschichte von Aufständen gegen die Lebensmittelteuerung ist. Victor Adler hat dazu nach dem Aufstand vom 17. September 1911 im Parlament, an die Adresse der bürgerlichen Abgeordneten gerichtet, gesagt: „Wundern Sie sich nicht darüber, meine Herren, wenn einmal ein Ausbruch passiert, sondern das Wunder, das täglich sich wiederholende Wunder ist, dass die Massen im ganzen Reich die herrschenden Zustände ertragen und nicht losbrechen.“
Der 17. September 1911 ist in Vergessenheit geraten. Ein Tag, an dem mehr als 100.000 Menschen in Wien gegen die unzumutbaren Lebensbedingungen demonstrierten. Ein Tag, der mit drei Toten und hunderten Verletzten endete – und mit der militärischen Besetzung eines ganzen Stadtviertels.
Begonnen hatte dieser Tag mit einer Kundgebung vor dem Parlament gegen die rasant steigenden Lebensmittelpreise. Organisiert hatte diese Kundgebung die sozialdemokratische Partei, und gekommen waren vor allem die BewohnerInnen der Vorstädte, aus Landstraße, Simmering, Ottakring …
Der Hunger in den Vorstädten war nicht Folge von Missernten, sondern der Zollgesetzgebung, die den Interessen der Großagrarier folgte. Ebenso hatte es sich mit der Hungersnot in Frankreich 1846/47 verhalten, die auf die massenhafte Ausfuhr von Getreide zurück zu führen war (und die zu massenhaften Aufständen führte). Und genauso verhält es sich mit der Preisexplosion bei Getreide seit 2008, die Folge der Umstellung auf „Bio-Sprit“-Produktion ist und ebenfalls zu weltweiten Hungerrevolten führt.
Ebenso konnte die Wohnungsnot nicht auf die massive Zuwanderung nach Wien zurückgeführt werden. Sie war Ergebnis von Spekulation mit Grund und Boden sowie Baumaterialien. Neu-Ottakring war ein in den 1890er Jahren errichteter, auf dem Reissbrett entworfener Bezirksteil, mit schnurgeraden Straßen, Substandardwohnungen und horrenden Mieten. Die Architektur spiegelt bereits die Angst der Herrschenden vor den „Geistern, die sie gerufen hatten“ (gemeint sind die für die kapitalistische Entwicklung nötigen Arbeitskräfte) wider:
Es gab keine verwinkelten Gassen, die sich, wie in der Revolution 1848, leicht verbarrikadieren ließen. Das gesamte Grätzl war von drei Seiten leicht abzuriegeln: zur Innenstadt stellte der Gürtel mit der hoch geführten Stadtbahn eine ideale Befestigungsanlage dar, nach Süden grenzte ein riesiger Truppenübungsplatz an das Gelände, und im Westen endete das Gebiet an der Vorortelinie.
Am 17. September 1911 explodierte die Wut der VorstadtbewohnerInnen. Nach den Reden vor dem Parlament zogen Gruppen von mehreren tausend DemonstrantInnen durch die Innenstadt. Sie wurden von Polizei und Armee ständig angegriffen und abgedrängt. Dagegen wehrten sie sich mit allem, was ihnen in die Hände fiel.
Und wenn die Presse (und die Sozialdemokratie) später von „unverantwortlichen Elementen“ und „Lumpenproletariat“ sprach, so musste sie gleichzeitig zugestehen, dass die „Exzedenten“ von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt wurden: Frauen versorgten Jugendliche mit Steinen, die sie in ihren Schürzen herbeischafften, aus Gasthäusern wurden die Ordnungshüter mit Bierkrügeln, aus den Fenstern der Wohnhäuser mit allem, was verfügbar war, beworfen. Die sozialdemokratischen Führer verstanden ebenso wenig wie die Bürger, warum Papierhandlungen und Schulen verwüstet und Straßenlaternen zerstört wurden. Für sie standen diese Einrichtungen für den „Fortschritt“. Wir verstehen diese Zerstörungswut besser, wenn wir uns an Stelle der Straßenbeleuchtung die Kameraüberwachung öffentlicher Räume und an Stelle der Papierhandlungen und Bezirksämter die Datenbanken der Ministerien und Polizei (sowie die privatwirtschaftliche Sammelwut von Daten) vorstellen.
Was die einen notwendige Voraussetzung für „sozialen Frieden“ und „geordnetes Zusammenleben“ nennen, bedeutet für andere Überwachung, Reglementierung, Unterdrückung jeglichen Ansatzes eines selbstbestimmten Lebens. Und oft Bestrafung und/oder Abschiebung.
Die sozialdemokratische Führung verstand den Aufruf zur Kundgebung als „Ventil“ für die Massen, die ihre Wut artikulieren „durften“, und als Unterstützung ihrer Parlamentsfraktion. Die Massen selbst verstanden, dass eine Kundgebung nichts ändern würde, sahen sie sich doch von Anfang an tausenden Ordnungshütern gegenüber, die nur darauf warteten, die Demonstration so rasch wie möglich aufzulösen.
Die Polizei wiederum konnte ebenso wenig wie die Armee begreifen, wieso die Aufständischen nicht abhauten, wenn der Befehl, die Gewehre anzulegen, erteilt wurde. Sie verstanden nicht, dass es für diese Menschen, die in ihrem eigenen Bezirk angegriffen wurden, gar keine Rückzugsmöglichkeit mehr gab. Und sie verstanden nicht, dass Menschen, die für ihre eigenen Interessen kämpfen, sich anders verhalten als zum Dienst für fremde Interessen verpflichtete Soldaten.
Der Aufstand in Neu-Ottakring endete noch am Abend des 17. September 1911. Er endete mit dem Einsatz nahezu der gesamten in Wien verfügbaren Truppen gegen die Bevölkerung eines einzigen Bezirksteiles. Er endete mit der militärischen Besetzung des gesamten Bezirks, mit drei toten und hunderten verletzten BewohnerInnen. Und er sollte so rasch wie möglich aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden, das war sowohl die Absicht der Regierung und der Bourgeoisie als auch der sozialdemokratischen Führung.
Er hatte gezeigt, dass es keinerlei Vertrauen der Vorstadtbevölkerung in die Regierung mehr gab. Er hatte auch gezeigt, dass die Menschen genug hatten von den Reden der sozialdemokratischen Opposition. Und dass sie verstanden hatten, dass „geordnete, disziplinierte Demonstrationen“ nichts ändern. Dieser Aufstand musste so rasch wie möglich unterdrückt werden, ehe er sich so weit entwickeln konnte, dass die Menschen selbstorganisiert ihr Leben in die Hand nahmen.
Wohin selbstorganisierter Widerstand führen kann, lernen wir zur Zeit etwa von den ÄgypterInnen. Die Zugeständnisse, die die Militärs gemacht haben, indem sie Präsident Mubarak verhafteten und anklagten, können die Menschen nicht mehr beruhigen. In immer neuen Mobilisierungen stellen sie immer weitergehende Forderungen, die schließlich nicht nur die Militärführung, sondern das Prinzip der kapitalistischen Verwertung selbst betreffen könnten.
Der 17. Septemer 1911 in Neu-Ottakring ist uns wichtig, und deshalb erinnern wir an ihn. Er ist in vielerlei Hinsicht aktuell. Spekulation mit Lebensmitteln und Wohnraum, Überwachung und Unterdrückung sind so wenig Geschichte wie ihre Ursache, die kapitalistische Verwertung – und der Kampf dagegen.
Am 17. September 2011 werden wir einige der Brennpunkte des Aufstands von 1911 besuchen und neben der Erinnerung an die Ereignisse vor 100 Jahren auch Parallelen zu heute ziehen. Wir gedenken der KämpferInnen in angemessener Form, indem wir sie nicht vergessen, indem wir aus ihren Fehlern lernen, und indem wir den Kampf um ein besseres Leben weiterführen.
12 Uhr – Volxküche, Infostand und szenische Interventionen am Yppenplatz
16 Uhr – Treffpunkt am Schuhmeierplatz für einen Rundgang durch das aufständische Ottakring
18 Uhr – Straßenfest am Hofferplatz mit Infos, Live-Musik und Volksküche
22 Uhr – Fortsetzung im BOEM* http://boem.postism.org (Koppstraße 26)
20 Uhr – Diskussion mit Wolfgang Maderthaner und Susan Zimmermann (HistorikerInnen) im BOEM* http://boem.postism.org (Koppstraße 26)