(Deutsch) Nieder-Österreich.

Aus. Wohlstand für Alle:

“Hilf Dir s e l b s t ! ”
Im sozialdemokratischen „Druckerei-Arbeiter” finden wir folgende vernünftige Betrachtung ü b e r die gegenwärtige T e u e r u n g : „Auf die Verbilligung der Lebensmittel und Bedarfsartikel a b z i e l e n d e p a r l a m e n t a r i s c h e Aktionen haben — wie die Fleischfrage b e w e i s t
— trotz allen Anstrengungen . . , . wenig o d e r gar keinen Erfolg. Die Regierung macht einfach, w a s sie will. Die Ausgaben für Heer und Flotte, die innerhalb der letzten zehn Jahre ungeahnte Steigerungen aufweisen, m ü s s e n bewilligt werden, wodurch die Staatsschulden ins unendliche
wachsen, w a s w i e d e r die Anziehung d e r Steuerschraube zur Folge hat. D e s h a l b gibt es in d e r Frage der Lebensmittelteuerung für die Angehörigen des arbeitenden S t a n d e s nur den einen R a t : Hilf Dir selbst I . . .”
Wie gesagt, s e h r vernünftige Ansichten, ganz die unsrigen. Aber sie schlagen d e r ganzen praktischen Politik d e r sozialdemokratischen Partei direkt ins Gesicht. D e n n diese hat gegenwärtig, in dieser Zeit d e s Lebensmittel- und W o h n u n g s w u c h e r s nicht gleich uns die Devise d e s M i e t e r z i n s s t r e i k e s — hier w ä r e d a s : „Hilf dir selbst!” — s o n d e r n die L o s u n g a u s g e g e b e n , die Regierung o d e r d a s P a r l a m e n t m ö g e helfen, w a s , wie der „Druckerei-Arbeiter” selbst einsieht, zwecklos ist. Im G e g e n t e i l : D a s Schwätzen im
Parlament ist eine t e u r e S t e u e r s c h r a u b e mehr fürs Volk, und d a ß d i e s e s S c h w ä t z e n z w e c k l o s ist, w i r d bald selbst d e r d ü m m s t e Kerl von Wien eingesehen haben.
Hilf Dir selbst, a r b e i t e n d e s Volk, d a s ist die richtige Abhilfe g e g e n ü b e r der T e u e r u n g . Hilf dir Übst durch den Mieterzinsstreik, durch deine wirtschaftlich g e s c h l o s s e n e Solidaritätsmacht. Hilf Du Dir selbst, dann erst hilft Dir Gott — also der Staat.
Das F a z i t . Endlich sind die barbarischen Justizabschlachtungen der unglücklichen Opfer der sozialdemokratischen Taktik vom 17. S e p t e m b e r zum Stillstand g e b r a c h t w o r d e n . Aber nicht durch den Aktionsmut d e r wirtschaftlichen M a s s e n p r o t e s t – Betätigung der W i e n e r Arbeiter, s o n d e r n dadurch, daß glücklicherweise d a s Material zu Ende war.
Es gab nichts mehr zu verurteilen, die lange Liste der verurteilten war erschöpft, und so nahm die justizbarbarei ihr E n d e , wie denn alles ein Ende nehmen muß.
Fassen wir nun z u s a m m e n und bieten wir den österreichischen Arbeitern die übersichtliche Liste der Schreckensurteile dar. Die kalte Sprache der Ziffern und Zahlen zeigt f o l g e n d e s :
Vom W i e n e r Landesgericht und vom Bezirksgericht Josefstadt wurden wegen d e r Ereignisse am 17. S e p t e m b e r und den folgenden Tagen bisher 173 P e r s o n e n verurteilt, und zwar 82 P e r s o n e n wegen V e r b r e c h e n s mit Kerker o d e r schwerem Kerker, 91 P e r s o n e n w e g e n Vergehens der Übertretung mit Arrest oder strengem Arrest. Die Strafen d e r „Verbrecher” betragen 51 Jahre, 3 Monate und 23 W o c h e n , die der wegen Versehens und Übertretung Verurteiltung 4 Jahre, 10 Monate und 1 W o c h e . D a s traurige Ergebnis d e r Tätigkeit der Demonstrationsrichter sind also Strafen von 56 J a h r e n , 1 M o n a t und 24 W o c h e n .
Dazu k o m m e n vielleicht noch an hundert Bestrafungen durch die Polizei, die ebenfalls zwei Jahre ausmachen dürften, und eine Untersuchungshaft von zweihundert Personen (der Verurteilten und der Freigesprochenen) durch durchschnittlich mindestens zehn T a g e , w a s wieder sechs Jahre ausmacht. Einzelne Abstrafungen dürften auch bei anderen Bezirksgerichten vorgekommen sein, so daß außer den bisherigen fünf Todesopfern, den Schmerzen der ungezählten Verletzten an s i e b z i g J a h r e F r e i h e i t a v e r l u s t d a s Ergebnis der polizeilichen, militärischen und gerichtlichen Ordnungsmacherei sind.
So gestaltet sich d i e „Verantwortung” d e r Sozialdemokratie für die Arbeiter, dieses ist-das Fazit ihrer „Taktik”. W a s aber d a s Schmachvollste an dieser Sache ist, bei der wir der Toten, die auf der Strecke blieben und so manches anderen gar nicht gedenken, w a s ihr die Krone aufsetzt, das ist der Umstand der absoluten T a t e n – und Aktionslosigkeit der Partei angesichts dieser aufpeitschen- den Urteile durch die Justiz. Sie hat so gehandelt, wie wir es vorausgesagt haben, sie hat eine Interpellation im Reichsrat eingebracht. Darin, im Papier, erschöpft sich die Aktion dieser so mächtigen Partei. D a s P a p i e r dieser Interpellation ist schon längst unter Aktenbündeln selig begraben, ganz so wie die armen Verführten des 17. Septembers in der Nacht ihres Kerkers unselig begraben sind. — Die Flut s t e i g t !
Bei der Nachwahl im XVI. Bezirk Wiens, die Anfang dieses Monats stattfand, ist die Sozialdemokratie, wie v o r a u s z u s e h e n war, natürlich als Siegerin über den christlichsozialen Kandidaten, einem Fabrikanten, hervorgegangen. Aber w a s sie mit schlauem Stillschweigen zu verdecken sucht, ist der Umstand unseres zunehmenden Einflusses auf die Arbeitermassen, der sich in energischer, die Politiker aller Parteien mit Verachtung behandelnder, zunehmender Abgabe von leeren Stimmzetteln manifestiert.
Bei der letzten Reichsratswahl im Juni I. J. sind 1135 l e e r e Stimmzettel abgegeben w o r d e n ; bei der Wahl am 3. Oktober, also kaum dreieinhalb Monate später, schon 1899.
W e n n es so weiter geht, werden die Politikanten aller Parteien sich bald energisch nach den Dummen umsehen müssen, die ihnen an die Krippe der Diäten verhelfen. Die Flut steigt, es wird höchste Zeit, Herr S e v e r !