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(Deutsch) Manifest an das arbeitende Volk von Wien.

Aus. Wohlstand für Alle! Wien, 27.September 1911 4 Jg. Nr. 18

Der 17. September wird in der Geschichte der österreichischen Arbeiterschaft stets verzeichnet sein als ein Tag des Mordes, der Gewalt und Unterdrückung.

An diesem Tage zeigte sich wieder einmal in lebendiger drastischer Form, was der Militarismus ist.
Blut ist geflossen, und es war Arbeiterblut, das vergossen wurde. Soldaten, unsere Arbeitsbrüder in der Livree des Militarismus sind es gewesen, die mit gefälltem Bajonett auf jene ihrer Arbeitsbrüder in der Armee der Lohnsklaverei einstürmten, die in friedlicher Massendemonstration sich flehend an die Herrschenden und Gewaltigen wandten, ihr Los des Elends, verursacht durch die zur Verzweiflung treibende Teuerung, zu erleichtern, zu mildern.
Ach, wie lächerlich, wie absurd-kleinlich war die Forderung, um die sich die ganze, von der Sozialdemokratie eingeleitete und inszenierte, dabei zwecklose Demonstration drehte. Einführung des argentinischen Fleisches verlangen die soz.-dem. Führer, obgleich sie wohl wissen müssen, daß dieses Fleisch die allgemeine Teuerung n i c h t beheben, ja nicht einmal verringern k a n n ; daß der Arbeiter mit seinem Durchschnittslohn nicht einmal dieses Fleisch zu kaufen im Stande ist.
Es ist traurig, daß die Arbeiterschaft Wiens sich noch gebrauchen läßt zu solchen Luftballonforderungen, die von den Politikern der Sozialdemokratie absichtlich deshalb aufgestellt werden, um ihre Tatlosigkeit zu verdecken, damit die Massen nicht einsehen sollen, daß all die während der Wahl gegebenen Versprechungen der Politiker aller Parteien eitel Lug und Trug sind. Deshalb opfert die Sozialdemokratie aus niedrigsten Mandatsdiäteninteressen, ihre prinzipiellen sozialistischen Forderungen, ihre gewerkschaftliche Kraft und Möglichkeit, sich gegen die Teuerung zu stemmen — und fordert die Arbeiter auf, zu „demonstrieren”.
Wofür? Eine Demonstration muß, um zu wirken, die Androhung mit dieser oder jener A k t i o n sein. Die Sozialdemokratie verschweigt aber geflissentlich jede wirtschaftlich einschneidende Aktion wirtschaftlicher Natur gegen die Teuerung, weil dies die Massen dazu brächte, zu erkennen, daß sie keine politischen und z e n t r a l i s i e r t e n Bürokratenführer brauchen, sondern selbst imstande sind, sich sozial zu heben und die Teuerung niederzuringen.
Wofür demonstrierten die Sozialdemokraten, wenn ihre Hauptanführer in der letztwöchentlichen Obmännerkonferenz im Parlament selbst erklärt haben, sie tun ihr Möglichstes, um die Massen von jeder Aktion z u r ü c k z u h a l t e n ? !
Jede solche Demonstration soll eben nur eine politische Staffage für die Herren Führer bilden. Sonst ist sie ganz zwecklos, — nur unendlich gefährlich. Sie stellt dem bis an die Zähne bewaffneten Militarismus geschlossene Menschenmassen entgegen, die, ganz abgesehen davon, daß sie unbewaffnet sind, dem Militarismus die strategisch beste Angriffsfläche darbieten, der gegenüber er allmächtig ist.

W o h e r nehmen die s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n Führer das Verantwortlichkeitsgefühl, riesige, unbewaffnete Massen dem bewaffneten Militarismus entgegen zu stellen?
Sie rühmen sich immer ihrer „Verantwortung” für d a s arbeitende Volk. Wo bleibt ihr Verantwortungsgefühl in solchen Situationen, in denen, wie am 17. September, der geringste Anlaß genügt, um einen Zusammenstoß zwischen Militär und Polizei einerseits, dem Volk anderseits herbeizuführen ?

Arbeiter Wiens, wir warnen euch davor, euch als politisches Schwungbrett für einige Führer gebrauchen zu lassen, die euch weder im Parlament noch außerhalb helfen können noch werden. Laßt euch nicht in Straßentumulte, in Radaumachereien, in sinnlose — wenn auch aus eurer Noterklärliche und wohl entschuldbare — Handlungen h i n e i n h e t z e n . Gebraucht euren gesunden revolutionären Geist, zu sozialwirtschaftlichen Massenaktionen euerer Gewerkschaften, die nichts mit Gewalt zu tun haben, sondern die Gewalt der Herrschenden euch gegenüber zum Stillstand bringen, sie paralisieren und euere soziale Lage raschest verbessern werden.
Warum ist der Verzweiflungsausbruch des Wiener Volkes vom 17. September erfolgt? Weil die Sozialdemokratie euch lehrt, gegen die Teuerung könne euch nur das Parlament helfen, und wenn es euch nicht helfe, dann bleibt euch eigentlich nichts anderes übrig als der W e g roher, blindlings wütender Gewalt. Diese vergiftende, geistig verblödende Theorie ist es, die euch am 17. September dem Militarismus und der Polizei — für dieses Gewaltwerkzeug der Regierung tritt die Wiener „Arbeiterzeitung” immer warm ein! — zum Opfer brachte. Kein Parlament der Welt kann der Teuerung abhelfen, denn das Parlament ist ein Schwatzklub von der Regierung hochbezahlter Schwätzer, und die Regierung ist finanziell und materiell die wahre Urheberin der T e u e r u n g ; sie umfaßt den agrarischen wie den industriellen Kapitalismus und wird deshalb der T e u e r n g niemals abhelfen.

Wenn ihr die Teuerung bekämpfen wollt, habt ihr keine Gewalt nötig, s o n d e r n die geeinte Solidarität eures wirtschaftlichen Willens ! W o sind jetzt eure Gewerkschaften, an die ihr so hohe Beiträge bezahlt? W a s bieten sie euch j e t z t ? W a s tun sie jetzt für e u c h ? Nicht das Geringste, denn ihre Führer sind auch politische Streber, ja meistenteils dieselben, die euch als Abgeordnete mit dem Schwindel des Parlamentarismus narren.

Seht nach Frankreich! Dort hat die revolutionäre Gewerkschaftskonföderation auf eigene Faust die Aktion gegen die Teuerung unternommen. Und ohne Parlament, ohne Vertreter im Parlament haben die revolutionären Gewerkschaftler die Regierung gezwungen, nachzugeben und eine Ermäßigung der Preise für die Lebensmittel wurde durchgesetzt. Statt Demonstrationen ohne Ziel, haben die französischen Arbeiter in Dutzenden von Orten den G e n e r a l s t r e i k
für h ö h e r e n L o h n erklärt.

Ist eine solche Aktion des wirtschaftlichen Kampfes nicht zweckmäßiger als leere Demonstrationsspaziergänge mit nachfolgender Niedersäbelung, Niedermetzelung, Niederschießung durch die bewaffnete G e waltsmacht des S t a a t e s : den Militarismus?!
W a s gedenkt ihr zu tun zu Ehren des am 17. September gefallenen, irregeleiteten, aber wackeren Proleten, eures Bruders, der erschossen oder von Bajonetten erdolcht w u r d e , zur Ehre des gesamten Österreichichischen Proletariats?

Ihr wollt Interpellationen einbringen lassen? Welche Selbstverhöhnung! Ihr liefert damit der Regierung nur das Papier zu — hinterlistigen Zwecken . . .

Wir haben euch einen anderen Vorschlag zu machen.
Ihr Arbeiter Wiens seid an die Hunderttausend stark gewerkschaftlich organisiert. Wofür zahlt ihr an die Gewerkschaften eure Beiträge, wenn diese eure Lebenslage nicht verbessern k ö n n e n ? Fordert nun, daß die Gewerkschaftsbewegung W i e n s , von ganz Österreich, die Idee des Mieterzinsstreikes propagiere und durch geschlossene Einheit zur Durchführung bringe.

Nicht mit Gewalt und Straßentumultszenen werdet ihr eure Lage verbessern.
Nur d a d u r c h : daß ihr b e w e i s t , daß ihr, angesichts der herrschenden Teuerung, die enormen Mietzinse in ihrer Steigerung nicht mehr bezahlen wollt noch könnt. Solange ihr sie bezahlt, k ö n n t ihr sie bezahlen; s o l a n g e ihr sie bezahlen wollt, werdet ihr sie bezahlen. Aber erst dann, wenn ihr sie nicht länger bezahlt, dann erst könnt ihr wirklich sie nicht länger bezahlen!
Der Mieterzinsstreik ist das einzige, momentan der Arbeiterschaft gegebene Mittel, durch d a s sie die Lebensmittelteuerung bekämpfen kann. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter Wiens, arbeitendes Volk — verlangt von euren Organisationsfunktionären, daß sie sofort eine G e n e r a l v e r s a m m l u n g aller A r b e i t e r o r g a n i s a t i o n e n W i e n s einberufen, in der die Kampfaktion des Mieterstreikes, dieser proletarischen direkten Aktion, erörtert und organisiert wird. Wenn eure Führer die „Verantwortung” dafür übernehmen können, daß ihr in nutzlosen Demonstrationen wehr- und waffenlos e r s c h o s s e n werdet — dann müssen sie die Verantwortung übernehmen wollen für eine wirtschaftliche Kampfesaktion der Arbeiterklasse zur sofortigen Bekämpfung der Teuerung! Fragt sie selbst, ob sie euch andere Mittel angeben können.
Sie können es nicht, denn das einzige, schon von einigen Tausenden von Familien — Mann und Frau sind hier gleichberechtigte Kämpfer! — durchzuführende Mittel ist und bleibt der

Mieterzinsstreik.

Arbeiter, bewahrt Besonnenheit, Kaltblütigkeit und eure Entschlossenheit. Laßt euch nicht zu zwecklosem Theaterdonner — denn das sind Demonstrationen ohne Ziel! — mißbrauchen; haltet fest zusammen und baut einzig und allein auf eure Solidarität in kraftvoller Kampfesaktion, in Angriff genommen durch eure Gewerkschaften.

D e r 17. S e p t e m b e r lehrt euch die unbedingte W i c h t i g k e i t der Propaganda des zielbewußten A n t i m i l i t a r i s m u s , die die Sozialdemokratie vollständig unterläßt.
Der 17. September soll euch lehren, welchen W e g des Kampfes ihr zu betreten habt:

H i n w e g mit d e m Schwindel des P a r l a m e n t a r i s m u s ! Es l e b e der Generalstreik!

H i n w e g mit d e m Schwindel von D e m o n s t r a t i o n e n , d i e nichts anderes d e m o n s t r i e r e n sollen als saft- und kraftlose Resolutionen!

B e g i n n e t die d i r e k t e Aktion des Mieterzinsstreikes!

Allgemeine Gewerkschaftsföderation von Wien.

Allgemeine Gewerkschaftsföderation in Wien.
Vereinslokal im Gasthaus „zur Bretze”, XVI.
Grundsteingasse 25. Zusammenkunft jeden Montag ab 7 Uhr abends. Vortrag mit anschließender freier Diskussion. Gäste herzlich willkommen.
Mitgliederaufnahme bei Joh. Holub, XVII/,. Seitenberggasse 69, II/19, an den alle Zuschriften zu richten sind.

(Deutsch) Klassenurteile – 17. September 1911

Anklagen und Strafen

Wegen des Verbrechens öffentlicher Gewalttätigkeit (Bewerfen der Wache mit Steinen) wurde der Angeklagte 27 jährige Anstreichergehilfe Adolf L zu 2 Jahren schweren Kerkers verurteilt.

Der 21jährige Tischlergehilfe Franz M. wurde zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er „Hoch die Revolution“ gerufen hatte.

Der 45jährige Arbeiter Johann K. hat bei der Räumung der Stadiongasse einem Wachmann einen Stockhieb versetzt und ihn „dummer Kerl“ geschimpft. Er sagt aus, dass er nicht „dummer“, sondern bloß „depperter Kerl“ gesagt hat. Das Urteil lautete auf 1 Monat Arrest.

Der 19jährige Schmiedgehilfe Josef K. ist beschuldigt, in der Kirchstettengasse eine Laterne zerschlagen zu haben, leugnet aber. Aufgrund einer Zeugenaussage, dass er ein Wurfgeschoss gegen einen Inspektor warf wird er zu einem Jahr schweren Kerkers verurteilt.

Der 54jährige Silberschmiedgehilfe Adolf B. war wegen Vergehens des Auflaufs angeklagt. Nachdem zugegeben hatte, das er gesagt hatte „haut sie nieder!“ wurde er zu 2 Monaten strengen Kerkers verurteilt, wobei er einen Strafaufschub erhielt.

Der 24jährige Eisenbahnbedienstete Karl R. wird wegen Auflaufs und Nichtfolgeleistung den Ort zu verlassen in Ottakring zu 10 Tagen einfachen Arrests verurteilt.

Der 29jährige Schneider Josef P., der 45jährige Buchdrucker Max B., der 21jährige Taschner Anton S. und der 29jährige Hilfsarbeiter Leopold H. haben sich gemeinsam wegen Vergehens des Auflaufs und S. auch wegen Wortstreit zu verantworten, da er auf die Aufforderung der Wache, fort zu gehen, mit lauter Stimme erwiderte „Wir sind österreichische Staatsbürger und können stehen, wo wir wollen!“. Der Gerichtshof verurteilte jeden Angeklagten zu je 10 Tagen Arrest.

Der 19jährige Sattlergehilfe Johann R. hatte in der Thaliastraße in Ottakring einen besetzten Straßenbahnwagen mit Steinen bombardiert und auch die einschreitende Wache mit Steinen beworfen. Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu 1 Jahr schweren und verschärften Kerker.

Der Schneidergehilfe Franz R. soll in der Taubergasse mehrere Gaslaternen eingeschlagen haben. Er wurde wegen boshafter Sachbeschädigung zu 3 Monaten Arrest verurteilt. R. hat Berufung angemeldet.

Leopold L. soll am 18. September in Ottakring ein Plakat der Polizei, in welcher diese besondere Sicherheitsvorkehrungen angekündigt hatte, heruntergerissen haben. Der Richter verurteilte den Angeklagten wegen Übertretung nach § 315 StGB zu drei Tagen Arrest.

Der Richter verurteilte den Angeklagten Franz B. wegen Einmengung in eine Amtshandlung zu vierzehn Tagen Arrest.

Der Gerichtshof verurteilte den 20jährigen Zimmermannsgehilfen Otto R. zu einem Jahr schweren Kerker, weil er eine Laterne durch einen Steinwurf zerstört hatte und dieses leugnete.

Der 20jährige Franz H. wurde zu 15 Monaten schweren Kerkers verurteilt, weil er einen Ziegelstein gegen ein Fiakerpferd geworfen hatte, und dieses zusammenbrach. Die Wache konnte H. erst später verhaften, weil die Menge eine drohende Haltung einnahm.

Der 20jährige Franz R. hat am 17. des Monats in Ottakring Steine gegen die Wache und das Militär geworfen und wurde zu 1 Jahre schweren Kerkers verurteilt.

Der Bürodiener Johann B. hat aus Neugierde den Demonstrationen zugesehen und soll, als er verhaftet wurde, dem Wachmann einen Stoß versetzt haben. Der Angeklagte wurde zu 3 Monaten schweren Kerkers verurteilt.

Der Schuhoberteilherrichter Franz W., 20 Jahre alt, hat um 4 Uhr nachmittags am 17. September in der Hasnerstraße eine Laterne eingeschlagen. Der Gerichtshof verurteilte ihn zu 6 Monaten schweren Kerkers.

Der 24jährige Schlossergehilfe Karl B. soll Sonntag um halb vier in der Panikengasse Steine auf die Wache geworfen haben. Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu 15 Monaten schweren Kerkers. B. meldete die Nichtigkeitsbeschwerde an.

Der 24jährige Schneidergehilfe Johann R., der einer nationalen Arbeiterpartei angehört, hatte sich am Gürtel des Auflaufs und der Wachebeleidigung schuldig gemacht und wurde zu einer Woche Arrest verurteilt.

Vor dem Jugendsenate war in der 1. Verhandlung der 16jährige Lehrling Eduard Z. und der 16jährige Kellnerbursche Franz A. wegen Verbrechens der boshaften Sachbeschädigung angeklagt, weil sie in der Herbststraße Laternen zerschlagen haben sollen zu drei Monaten schweren Kerker.

Der 21jährige Tischlergehilfe Rudolf S. hat am Sonntag nachmittag auf die Wache einen Stein geworfen. Die Strafe lautet auf 1 Jahr schweren Kerkers.

Der 15jährige Lehrling Josef H. hatte am Sonntag um 8 Uhr abends in Ottakring eine Straßenlaterne eingeschlagen und wurde zu vier Monaten schweren Kerkers verurteilt.

Der 37jährige Tagelöhner Friedrich S. hatte am Sonntag abend einen Ziegelstein gegen eine Laterne geworfen und eine andere ausgelöscht. Urteil: 6 Monate schweren Kerker.

Der 23jährige Schneidergehilfe Josef M., der am Sonntag in der Lichtenfelsgasse von einem Wachmann verhaftet worden war, als er eben einen Stein aufhob, um ihn angeblich gegen ein Fenster zu werfen, wurde zu 8 Monaten schweren Kerkers verurteilt.

Der 18jährige Eisendreher Leopold B., wird wegen Nichtfolgeleistung und „Pfui Wache!“-Rufens zu 14 Tagen Arrest verurteilt.

Der 18jährige Johann B. soll am Hofferplatz in Ottakring mit einem Stock zwei Laternen eingeschlagen haben. Urteil 1 Jahr schweren Kerkers.

Der 23jährige Schlossergehilfe Ferdinand P. ist wegen Auflaufes angeklagt, weil er der Wache zurief „ihr habt selber nichts zu essen“ und der Aufforderung, sich zu entfernen, keine Folge geleistet haben soll. Der Angeklagte wurde nur wegen Einmengung in eine Amtshandlung zu einer Woche Arrest verurteilt.