(Deutsch) Teuerungsrevolten — in Wien und in Frankreich.

Aus. Wohlstand für Alle, Wien 25.10.1911

Die Ereignisse, die sich am 17. September in Wien abspielten, zeigen uns wieder einmal aufs klarste das Unheil, welches entsteht, wenn die Arbeiterklasse kein revolutionäres Empfinden und kein revolutionäres Ideal hat. Die Volksmassen, denen man, fortwährend blos das Eine vorgepredigt hat, daß sie auf ihre „Vertreter” und „Führer” vertrauen und diesen gehorchen müssen, und die von diesen Vertretern und Führern, von Obrigkeit und Gesetzen die Verbesserung ihrer Lage erwarten, haben, als diese Führer sie für einmal (sie wissen’s, warum!) sich selbst überließen, nichts anderes zu tun vermocht, als ihre Verzweiflung und ihren Haß durch blindwütendes Zertrümmern von Fenstern und Verwüsten von Parkanlagen und Schulen Luft zu machen. Sie haben nicht einmal versucht, ihren Zorn speziell gegen jene zu kehren, die am unmittelbarsten Schuld an der Verteuerung des Lebens sind — gegen die Spekulanten der Börse, und die Nahrungsmittel- und Hauszinswucherer. Die Idee, durch selbstständige Massenaktionen einen direkten Einfluß auf die Herabsetzung der Lebensmittelpreise und der Wohnungsmiete zu nehmen, ist ihnen nicht einmal in den Sinn gekommen.
Wie anders gingen in derselben Lage die französischen Arbeiter — oder besser gesagt, die französischen A r b e i t e r f r a u e n — vor!
Auch in den Arbeiterdistrikten Frankreichs gingen — wie so ziemlich überall — in der letzten Zeit die Preise der notwendigsten Nahrungsmittel — Milch, Butter, Eier, Fleisch, Brot, Gemüse etc. — bedeutend in die Höhe. Doch ein großer Teil des französischen Proletariats hat aus seinen Erfahrungen die Lehre gezogen, daß die Obrigkeit, das Parlament und die Regierung
dieser Teuerung nicht abhelfen kann — wie dieselben ja überhaupt teils weder die Macht noch den Willen haben können, irgendwelche Verbesserung in der Lage des arbeitenden Volkes durchzuführen, da die Herrschenden aus den Teuerungszuständen selbst profitieren. Die Arbeiterfrauen, die es natürlich aufs unmittelbarste zu fühlen bekommen, daß der heimgebrachte Lohn ihrer Männer für immer weniger und weniger im Haushalt reichte, sparten sich auch die Mühe, Bittgesuche an die Regierung und Protestresolutionen ans Parlament einzureichen — sie taten sich lieber zusammen, u m s i c h s e l b s t zu helfen.
Die aufgeweckteren und energischeren unter ihnen riefen die übrigen Genossinnen ihrer Stadt oder ihres Distriktes zu einer Besprechung zusammen. Da wurde dann der Preis für die verschiedenen Lebensmittel festgesetzt: von dem und dem T a g an d a r f der Liter Milch nicht mehr als 19 Centimes (19 h), das Kilo Butter nicht mehr als soundsoviel kosten usw. Von den Händlern, die höhere Preise rechnen, wird n i c h t s gekauft; die Hausfrauen, die höhere Preise z a h l e n , werden gesellschaftlich und im Umgang boykottiert, d. h. als Verräterinnen an der gemeinsamen guten Sache behandelt.
Diese Beschlüsse wurden den Händlern zur Kenntnis gebracht, mit der Aufforderung, ihre Preise entsprechend herabzusetzen. Den nächsten T a g erschienen die Arbeiterfrauen in Gruppen am Markt: wenn die Verkäufer die Lebensmittel zu den von den Konsumenten festgesetzten niedrigeren Preisen abgaben, ging alles in Ordnung vor s i c h ; jene aber, die nicht gleich nachgeben wollten, wurden umringt, man sagte ihnen gehörig die Meinung, und wenn sie hartnäckig auf ihre höheren Preise beharrten oder auf die Forderungen der Käufer mit Grobheiten oder Tätlichkeiten antworteten, wurden ihre Wagen und Stände im Nu leer, indem man einfach darnach griff und blos die nach eigener Preisbestimmung bemessene Geldsumme diesen Händlern hinwarf.
Diese direkte Aktion verfehlte selten ihren Zweck. Nach einigen solchen Vorkommnissen genügte sogar oft schon die bloße Drohung mit derselben, um die Preise herabzusetzen. Alle Preise wurden beträchtlich vermindert.
Freilich lief die Sache nicht immer so glatt ab. An manchen Orten versuchten die Händler unter dem Schutze der Obrigkeit (welche die Märkte durch die Polizei bewachen ließ, um die „ O r d n u n g ” aufrecht zu erhalten) ihre ausbeuterischen Preise auch weiterhin den Käufern aufzuzwingen. Aber
die Käufer kamen nicht; der Markt w u r d e b o y k o t t i e r t. Teils freiwillig, teils gezwungen, verzichteten sie auf einige T a g e auf die in Frage stehenden Lebensmittel und die Händler mußten ihre Waren verderben lassen oder nach Hause zurücktransportieren, wenn sie nicht die Preise herabsetzten.
Gruppen von Demonstranten bewachten die Zugänge der Städte, streiften auf der Landstraße und um die Gehöfte herum und ließen keinen Milchwagen, keinen Butter- und Eiertransport durch, dessen Verkäufer Sich nicht verpflichtete, den P r e i s t a r i f d e r K o n s u m e n t e n anzunehmen. Hatte sich ein Händler dennoch in die Stadt eingeschlichen und versuchte er, seine Ware im Geheimen an Boykottbrecher abzusetzen, wurde sein Laden ausgekundschaftet und dann desto mehr bedrängt. Oft wurde von den verbündeten Arbeiterfrauen eine noch bessere Taktik angewandt. Diese bestand darin, daß die Käufer die Ware der renitenten Verkäufer mit Beschlag belegten: Sie wählten einige unter sich aus, die auf der Stelle den Verkauf dieser Lebensmittel, zum Preis, den die Konsumenten festgesetzt hatten, bewerkstelligten ; das Erträgnis wurde dann dem Verkäufer eingehändigt. In manchen Städten erzwangen die Demonstranten — oft durch einen kurzen Generalstreik sämtlicher Arbeiter — überdies auch die A b s c h a f f u n g der städischen Verzehrungssteuer.
Welch ein Gegensatz zwischen diesen zielbewußten und zweckentsprechenden selbständigen wirtschaftlichen Vorgehen der französischen Arbeiterfrauen und dem wüsten Krawall, in den sich das immer am Gängelband der Politiker geführte, arme Wiener Proletariat hat hineinhetzen lassen und der nichts als ein brutales Nieder- trampeln des Volkes durch bewaffnete und richterliche Gewalt nach sich ziehen konnte!
W a s dem Proletariat nottut, das ist die klare Erkenntnis dessen, w a s e s will, und die Erfahrung, daß es das, was es braucht, nur s e l b s t , durch e i g e n e Kraft erringen kann. Kürzere Arbeitszeit und höhere L ö h n e , erschwingbare Lebensmittel- und Wohnungspreise — all dies kann nur durch
das unmittelbare Eingreifen (die direkte Aktion) jener, die dessen bedürfen, erreicht, werden — dadurch, daß die Arbeiter und Arbeiterinnen mit einem, alle umfassenden, gemeinsamen Entschluß s i c h w e i g e r n , längere Zeit und für weniger Lohn zu arbeiten und höhere Preise für ihre Woh-
nungen und Lebensbedürfnisse zu bezahlen. Auf diese Weise werden sie nicht nur eine sofortige zeitweilige Erleichterung ihrer Lebenslage erreichen, sondern sie werden durch fortwährende Übung ihre Macht erkennen und festigen, die in ihrer Arbeit, ihrem selbständigen Handeln und ihrem Zusammenhalten liegt — und mit dieser Macht werden sie alsbald im Stande sein, den Gesellschaftszustand, aus welchem ihre Armut entspringt, von Grund aus und auf immer umzugestalten. Sie werden eine Gesellschaft begründen, wo die Erde und die Arbeitsmittel und deren Erträgnis jenen gehören, die dieselben brauchen und gebrauchen, und wo das arbeitende Volk, in Gruppen und Föderationen vereinigt, ohne Herrschaft uud fremde Einmischung seine Angelegenheiten regelt: Eine Gesellschaft des Wohlstandes und der Freiheit für Alle, die k o m m u n i s t i s c h e A n a r c h i e .
Wo aber dieses Ideal und die Energie zum selbständigen Handeln dafür fehlen, da wird da? arbeitende Volk immer ausgebeutet und geknechtet bleiben. Sogar seine Empörungen gegen unerträgliche Zustände — wenn es sich noch zu solchen aufraffen kann — werden dazu mißbraucht werden, um e i n e herrschende Politikantenkaste zu G u n s t e n e i n e r a n d e r e n z u stürzen.
Folgen die Arbeiter immer nur blindlings den Anordnungen ihrer Führer, ohne selbst nachzudenken, wie die Befolgung dieser Befehle ihre eigenen Interessen berührt, wie es leider in Österreich durch die Bank der Fall ist — dann werden sie immer nur ein W e r k z e u g für das politische Diäten-
Interesse dieser Führer sein, wie der 17. September es u n s lehrt. Sie w e r d e n sich die Köpfe einschlagen lassen, d a m i t einige Gemeinderäte und A b g e o r d n e t e , G e w e r k s c h a f t s – und Parteibeamte ihre Herrschaft — u n t e r welcher die M a s s e d e s P r o l e t a r i a t s s c h o n letzt genugsam zu leiden h a t — n o c h m e h r befestigen und ausdehnen.