(Deutsch) 03 Herbststraße (Heilig-Geist-Kirche – 17. September 2011)


Historisches

Hier, bei der Heilig-Geist-Kirche, haben Spezialeinheiten der Armee Aufständische angegriffen, die sogenannten „Bosniaken“. Diese Infanterie-Einheit, die nur ursprünglich aus bosnischen Armeeangehörigen bestanden hat, war eine Elitetruppe innerhalb der k.u.k.-Armee, in der u.a. der spätere österreichische Bundespräsident Adolf Schärf gedient hat.

Ein wenig weiter stadteinwärts liegt auf der rechten Seite die Radetzky-Kaserne, ein riesiger Komplex, errichtet in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie lag am Rand des Truppenübungsplatzes, der sich über die gesamte, damals noch viel größere Schmelz gezogen hat. Im Februar 1934 sind von dieser Kaserne aus die Aufständischen gegen den Austro-Faschismus, die sich in Gemeindebauten verschanzt haben, beschossen worden. Und während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ist hier eine SS-Einheit stationiert gewesen.

Auf Teilen des Truppenübungsplatzes ist in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts der Ortsteils Neu-Ottakring entstanden, durch den wir heute gehen. Das ist ein auf dem Reißbrett entworfenes Grätzl mit schnurgeraden Straßen, ideal zur Aufstandsbekämpfung. Da, wo heute noch die Schmelz ist, war 1911 unter anderem die Dampfkraftgewinnungsanstalt, und die ist auch von den DemonstrantInnen angegriffen worden.

Und von der Schmelz her haben Gruppen von Jugendlichen am 17. September 1911 immer wieder Angriffe gegen die Polizei und die Soldaten durchgeführt. Sie sind aufgetaucht, haben Steine geworfen und sind wieder im Dunkel der G’stätt’n verschwunden.

Die Sozialdemokratie hat später verbreitet, dass es vor allem Jugendliche und Arbeitslose, „Lumpenproletariat“ genannt, waren, die diesen Aufstand durchgeführt haben. Aber in ihrer eigenen Zeitung, der Arbeiter-Zeitung, lesen wir von einer Ottakringer Arbeiterin, die zum Redakteur meint: „Die Weiber haben die Staner hergeschleppt in die Schürzen und die Buben haben’s geschmissen. Schauen’S nur, net a Fenster ist ganz da bei der Anstalt.“ Und sie meint damit die Impfstoffgewinnungsanstalt, die neben der Schule am Schuhmeierplatz lag.

Und an anderer Stelle gibt die Arbeiter-Zeitung die Stimmung der DemonstrantInnen so wieder: „Als auf der Ringstraße die ersten Steine flogen, drängte sich einer unserer Vertrauensmänner in die erste Reihe der Demonstranten und mit dem Aufgebot seiner ganzen Stimmittel suchte er die erbitterte Menge von dem ziellosen Zerstörungswerk abzuhalten. Da legte eine alte Frau ihre Hand auf seine Schulter und rief ihm zu: ‚Lassen Sie doch die Leute! Was soll man denn tun, wenn das Kilo Zucker mehr als eine Krone kostet?’ Das war die Stimmung der Tausenden.“ Es waren also wohl doch die ArbeiterInnen, die diesen Aufstand getragen haben.

Und danach

Vier Menschen sind am 17. September 1911 vom Militär und der Polizei durch Bajonettstiche, Säbelhiebe oder Schüsse umgebracht, ungefähr 130 Personen zum Teil schwer verletzt worden. Die meisten Opfer waren junge ArbeiterInnen, Otto Brötzenberger beispielsweise ein 21jähriger Eisenbieger, Franz Joachimsthaler ein 24jähriger Schlosser und Mitglied einer sozialdemokratischen Jugendgruppe. Nach beiden sind heute Orte in Ottakring benannt. Ein Mann hat sich in der Untersuchungshaft das Leben genommen.

Gleich nach dem 17. September hat eine Welle von Gerichtsprozessen gegen die rund 500 Verhafteten, von denen die meisten in Untersuchungshaft geblieben sind, eingesetzt. Dabei waren die allermeisten Delikte eher Bagatellen, nämlich Teilnahme an der Demonstration, Widersetzlichkeit gegen die Wache (das waren oftmals nur Rufe wie „Lasst die Gefangenen frei!“ und ähnliche) und Sachbeschädigung durch Steinwürfe.

Die Sozialdemokratische Partei hat den Angeklagten Anwälte zur Verfügung gestellt, aber die Verteidigungsstrategie war verheerend. Die Partei ist natürlich von der Presse und der Regierung scharf angegriffen und als Drahtzieherin des Aufstands denunziert worden. Deshalb haben die Anwälte versucht, ihre Angeklagten als Einzeltäter ohne politischen Hintergrund zu präsentieren. Und damit sind politische Prozesse, die diese Verfahren ja waren, als ganz normale Kriminalfälle geworden abgehandelt worden.

Kaum ein Angeklagter hat sich, zumindest aus dem, was uns an entsprechenden Zeitungsberichten vorliegt, gegen die Anschuldigungen gewehrt, kaum einer hat auf die Teuerungen und die Wohnungsnot als Ursache der Proteste hingewiesen, kaum einer auf die Provokationen der Polizei und der Armee, auf die Misshandlungen beim Verhör und die konstruierten Anklagen.

Den Angeklagten hat die Entpolitisierungsstrategie in keiner Weise genützt, die Strafen, die sie ausgefasst haben, waren drakonisch. Für einen Steinwurf, der einen Laternenmast demoliert hat, ist ein Jahr unbedingte Gefängnisstrafe verhängt worden. Selbst für den Ruf „Hoch die Anarchie!“ haben die Richter noch drei Monate Gefängnis verhängt. Als strafverschärfend ist die Mitgliedschaft in einer ArbeiterInnenorganisation hinzugekommen, strafmildern hingegen haben sich Beziehungen, etwa die von Verwandten zu höheren Kreisen der Veraltung, ausgewirkt.

Besonders hart sind junge, arme Menschen bestraft worden, auf die sich die Teuerungen doch besonders stark ausgewirkt haben. Die Urteile haben vor allem der Abschreckung gedient, und deshalb haben die Verfahren rasch erledigt werden müssen, damit niemand auf die Idee kommt, sich noch einmal gegen die Obrigkeit aufzulehnen.

Die juristische Abwicklung der riots in London 2011 ist genau demselben Muster gefolgt. Da haben plötzlich eine Menge Richter Überstunden eingeschoben, damit die Angeklagten in Schnellverfahren möglichst rasch zu abschreckend hohen Strafen verurteilt werden. Und so wie schon 1911 in Wien, und wie übrigens fast immer bei solchen Anlässen, sind die Belastungszeugen fast ausschließlich die Polizisten gewesen, die die Leute festgenommen haben. Bekannte der Angeklagten sind als Zeugen fast durchweg für unglaubwürdig erklärt oder gar selbst mit einem Gerichtsverfahren überzogen worden.

Leider haben es auch viele der Betroffenen den Gerichten leicht gemacht. Um rascher aus dem Gefängnis zu kommen, haben sie auf eine Voruntersuchung verzichtet. In der Hoffnung, dass ein Geständnis als mildernd gewertet wird, haben viele kleine Vergehen zugegeben. Dabei heißt es doch bekanntlich vor Gericht „sagst du ja, bleibst du da – sagst du nichts, gehst du heim“. Die Richter haben das alles gegen die Angeklagten verwendet und sie erst recht zu unbedingten Haftstrafen verurteilt.