(Deutsch) 01 Historisches und Aktuelles – 17. September 2011


Historisches

Willkommen bei unserem Rundgang durch Ottakring anläßlich des 100. Jahrestages des Aufstands in diesem Bezirk. Das Grätzl zwischen Gürtel, Thaliastraße, Vorortelinie und Gablenzgasse ist in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bebaut worden. Davor war es Teil des riesigen Truppenübungsplatzes Schmelz.

Um uns in der Zeit, über die wir heute sprechen wollen, zurecht zu finden, wollen wir erstmal ein wenig zurückblicken. Wie wir spätestens seit 2008 wieder wissen, funktioniert die kapitalistische Wirtschaft, die Warenwirtschaft … nicht. Sie schafft immer neue Höhenflüge, um immer wieder am Bauch zu landen, in der Sprache der Wirtschaftswissenschaften nennen wir das Konjunktur und Krise.

Um es kurz zu machen: Nach der Weltwirtschaftskrise 1873 haben die industrialisierten Länder fast 20 Jahre gebraucht, um aus der Stagnation herauszukommen.

Aber in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ist dann die Industrialisierung in unerhörtem Maß vorangeschritten, und die Nachfrage nach Arbeitskräften entsprechend gestiegen. Deshalb ist es zu einer riesigen Migration von Menschen, vor allem aus ländlichen Gebieten, nach Wien gekommen. Die EinwohnerInnenanzahl hat sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten auf 2 Millionen verdoppelt.

Im Jahr 1910 waren die Mehrheit der Wiener Bevölkerung MigrantInnen, von denen fast die Hälfte aus Böhmen und Mähren gekommen ist. Dieser Zuzug war durchaus geplant, die Lehrlinge und ArbeiterInnen sind oft über private Agenten angeworben worden, ähnlich wie dann wieder in den 1960er Jahren. Und beide Male waren vor allem unqualifizierte ArbeiterInnen gefragt, weil die billig gewesen sind und– zumindest haben die Unternehmer sich das so gedacht – leicht zu kontrollieren und im Zaum zu halten. Naja.

Diese MigrantInnen haben sich wiedergefunden in den ebenfalls geplanten, neu errichteten Vororten außerhalb des Gürtels. Das waren am Reißbrett entworfene Siedlungen mit schnurgeraden Straßen, mit standardisierten Wohnungen, d.h. Substandardwohnungen mit Clo und Wasser am Gang. Und weil die Nachfrage nach Wohnungen das Angebot übertroffen hat, mit horrenden Mietzinsen.

Um 1911 hat es in Wien also eine verheerende Wohnungsnot gegeben, und dazu sind die ständigen Preissteigerungen bei Lebensmitteln gekommen. Das hat nicht nur für Wien gegolten, das war in Frankreich oder England nicht viel anders. Und deshalb hat es auch in vielen Ländern und Städten Hungerrevolten gegeben, Streiks, Mietzinsboykotte und so weiter. In Wien hat sich durch die Teuerung die Kaufkraft des Geldes um wenigsens ein Drittel verringert. Ab Anfang September hat es in den ArbeiterInnenbezirken Versammlungen zu diesem Thema gegeben, bei denen bereits absehbar war, wie wütend die Menschen über diese Entwicklung waren.

Für den 17. September 1911 hat die Wiener Sozialdemokratie dann zu einer Kundgebung gegen die Teuerungen aufgerufen. Und es sind viel mehr Menschen gekommen, als die SP gedacht hätte, nämlich um die 100.000. Deshalb hat die Kundgebung dann auch nicht im Rathaus, sondern davor stattgefunden.

Und gekommen sind auch fast alle Wiener Polizisten und große Teile des in Wien stationierten Heeres. Wie nun die Kundgebung aus war, das war gegen 11 Uhr vormittags, und als die meisten DemonstrantInnen den Rathausplatz bereits verlassen gehabt haben, hat das Militär den gesamten Platz eingekesselt, auf dem noch tausende Leute waren. Und die Polizei hat damit begonnen, die Leute vom Platz zu jagen. Also sind diese Leute zwangsläufig auf das Militär gestoßen, und es hat die ersten Verletzten gegeben, bis die Menge dann an einer Stelle durchbrechen hat können.

Und während diese DemonstrantInnen zuvor noch die Soldaten willkommen geheißen haben, waren sie jetzt so richtig aufgebracht. Ihr Zorn hat sich erst gegen das Rathaus gerichtet, weil es geheißen hat, dass dort jemand Kohlestücke runtergeschmissen hätte. So sind auf zwei Seiten vom Rathaus so ziemlich alle Fensterscheiben bis in den 1. Stock eingeworfen worden, und danach beim Bezirksamt in der Schmidgasse gleich hinter dem Rathaus.

Ein Teil der DemonstrantInnen, die vorher schon abzegogen sind, ist beim äußeren Burgtor aufgehalten worden und wieder in einen Kessel geraten. Dann hat es geheißen, es sei aus dem Verwaltungsgerichtshof auf sie geschossen worden. Der war damals im heutigen Palais Epstein am Ring bei der Bellaria untergebracht. Also hat sich die Wut an diesem Gebäude ausgelassen, und erst sind hier, danach beim Justizpalast, der dahinter liegt, die Fensterscheiben eingeworfen worden.

Dann haben Polizei und Militär bereits Jagd auf diese großen Gruppen von DemonstrantInnen gemacht und sie über die 2er Linie in Richtung Ottakring gedrängt. Vor allem in der Burggasse und der Lerchenfelderstraße sind so ziemlich alle Laternen von den DemonstrantInnen zerschlagen worden. Auch viele Geschäfte, vor allem Papiergeschäfte, sind demoliert worden.

Am Gürtel haben die DemonstrantInnen erste Barrikaden errichtet, dazu haben sie auch Straßenbahnwagen benutzt. Und so hat sich aus der Kundgebung ein Aufstand entwickelt, der schließlich hier, in Ottakring, seinen Höhepunkt gefunden hat.

Wir werden jetzt einen Rundgang durch das Gebiet machen, in dem dieser Aufstand stattgefunden hat. Wir werden ein bißchen erzählen, was an den besuchten Orten vorgefallen ist. Und wir werden versuchen, Parallelen zu heute zu ziehen. Beginnen wir gleich damit:

Aktuelles

Österreich

So wie 1911 gibt es auch heute überteuerte Mieten, und so wie damals steigen gerade in den letzten Jahren die Preise für Lebensmittel und Energie enorm an. Ein kleiner Preissteigerungs-Rap für Wien 2011 gefällig? 2

Kategoriemietzinse, Verwaltungskostenpauschale bei den Wohnungs-Betriebskosten 5% Erhöhung

Kostenbeitrag für mobile Pflege 5,5% Erhöhung

Eier, Milchprodukte 6% Preissteigerung

Abwasser, Müllgebühr 6,2% Erhöhung

Obst, Fernwärme 8% Preissteigerung

Gas 15,5% Preissteigerung

Benzin 17% Preissteigerung

Kaffeee 27% Preissteigerung

Wasser 33% Preissteigerung

Zucker 35% Preissteigerung

Die Arbeiterkammer rechnet für heuer mit einer realen Inflation, d.h. mit Preissteigerungen bei Produkten und Dienstleistungen, die arbeitende Menschen hauptsächlich kaufen müssen, um 6,9%, und damit ist die Inflation, die uns tatsächlich betrifft, ungefähr doppelt so hoch wie die offiziell angegebene.

International

Noch schlimmer steht es um die Lebensmittelteuerungen, wenn wir uns die Welt insgesamt ansehen. Seit 1990 sind die Lebensmittelpreise um 230% angestiegen. Allein zwischen Oktober 2010 und Jänner 2011 waren es weitere 15%, wodurch weitere 44 Millionen Menschen auf dieser Welt in extreme Armut gedrängt worden sind. Insgesamt hungern heute 1Milliarde Menschen weltweit, das heißt jeder siebte Mensch ist unterernährt.

Dieser Hunger ist gemacht. Mais, Soja und andere Lebensmittel werden verstärkt zur Biosprit-Produktion herangezogen, deshalb haben schon Anfang 2007 in Mexiko erste Aufstände stattgefunden. Im Jahr 2008 haben sich diese Brotunruhen auf d08:46 12.09.2011en ganzen Erdball ausgedehnt:

In Haiti ist 2008 der Premierminister ausgetauscht worden, nachdem bei Hungerrevolten fünf Menschen ums Leben gekommen sind.

In Mahalla al-Kubra in Ägypten haben sich tausende ArbeiterInnen Straßenschlachten mit der Polizei geliefert, in Thailand, auf den Philippinen, in Marokko hat es Demonstrationen und Aufstände gegeben. Und wie haben diese Aufstände ausgesehen?

Erst kommt es zu mehr oder weniger spontanen Aufläufen von protestierenden Menschen auf der Straße, die sich über die Preiserhöhungen beschweren. Dann kommt die Polizei und versucht, diese Zusammenkünfte aufzulösen, was die Wut der Menschen nur noch steigert. Und schließlich beginnen meist junge Menschen, Barrikaden zu errichten, Steine gegen die Sicherheitskräfte und gegen Schaufenster zu werfen und wo möglich Geschäfte zu plündern. Jetzt geht die Polizei mit verstärkter Gewalt gegen die DemonstrantInnen vor, allzu oft gibt es dabei Todesopfer zu beklagen. Und in den darauffolgenden Wochen gibt es Serien von Prozessen gegen die DemonstrantInnen oder auch Unbeteiligte.

Vielleicht versucht auch die Regierung zu beschwichtigen, indem kurzfristig einige Lebensmittelpreise per Subventionierung gesenkt werden, was im Endeffekt auch nur heißt, dass die SteuerzahlerInnen den vollen Preis bezahlen und die Unternehmer weiterhin den vollen Gewinn einstreifen können.

Es hat sich also seit 1911 zwar einiges geändert, das grundlegende Problem für die Veschlechterung der Lebenssituation der meisten Menschen ist aber immer noch das gleiche. Wir können es schlicht Diebstahl in unglaublichem Ausmaß durch die Unternehmer nennen, oder, wem das besser gefällt, Profitmaximierung innerhalb der kapitalistischen Verwertung.

Kein Wunder also, dass die Geschichte des Kapitalismus auch eine Geschichte von Aufständen gegen die Lebensmittelteuerung ist. Victor Adler hat dazu nach dem Aufstand vom 17. September 1911 im Parlament, an die Adresse der bürgerlichen Abgeordneten gerichtet, gesagt: „Wundern Sie sich nicht darüber, meine Herren, wenn einmal ein Ausbruch passiert, sondern das Wunder, das täglich sich wiederholende Wunder ist, dass die Massen im ganzen Reich die herrschenden Zustände ertragen und nicht losbrechen.“